Im Namen des Volkes

House of cards
Tibetanische Esoterik im Weißen Haus – Szene aus „House of Cards“

„Die Ära [bitte selbst ausfüllen] ist damit geprägt von zwei partiell widersprüchlichen Tendenzen: dem Aufbau eines neuen charismatischen Personenkults und, parallel hierzu, der Stärkung der legal-rationalen Herrschaft.“
Welche Ära ist gemeint?
[ ] Die des römischen Kaisers Gaius Octavius, genannt Augustus?
[ ] die des weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka?
[ ] die des Generalsekretärs der KP Chinas, Xi Jinping?

Die Antwort steht in diesem interessanten theoretischen Text, den ich dem Publikum empfehle – Niko Switek (Hg.): Politik in Fernsehserien – Analysen und Fallstudien zu House of Cards, Borgen & Co.“. (Vorsicht! TL;DR)!)

Ich bin gerade dabei, die fünfte Staffel von House of Cards vor dem Einschlafen anzusehen. Mir gefällt die Serie; ich mag tiefschwarzen Zynismus. Ich hätte nie gedacht, dass Bertolt Brecht von Hollywood ernst genommen würde. Keine romantisch glotzenden Rezipienten mehr? Großartig – bin sofort dabei. Ich habe da aber noch ein paar Fragen.

Es waren vor allem die Erfahrungen mit den industriellen Dimensionen der amerikanischen Filmindustrie, die Günther Anders, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu ihrem Urteil veranlassten, dass Filme als Produkte der Unterhaltungs- und Kulturindustrie nur den Zweck der Ablenkung und damit der Stabilisierung des bürgerlich-kapitalistischen Systems dienen.

Ach so? Dann darf ich solche Serien vielleicht gar nicht gucken? Brecht hätte es mir aber vermutlich erlaubt. Die Frage ist spannend, was eine realistische Szenerie – künstlerisch im Film umgesetzt -, wie Politik im Kapitalismus gemacht wird, bei den Zuschauern bewirkt: Werden die zynischer, also realistischer? Oder behalten die ihre Illusionen dergestalt, dass Biden besser als Trump sei?

Die Autoren des erwähnten Textes sprechen von Relevanz durch Realitätsimitation – die realistische Politikfiktion sei echter als echt. Diese Serien sind also „besser“ als die bloße Imitation des Politischen wie in Talkshows. Aber: Politik wird vor allem als politics gezeigt, als dynamischer Prozess, in dem Akteure (vor allem die Protagonisten) in Machtbeziehungen versuchen, ihre Interessen durchzusetzen und auszuhandeln „who gets what, when, how“. Die verfolgten Ziele (policies) bleiben dabei in der Regel vage und Vehikel für die dramaturgisch interessanteren politics.

House of cards

Das ist ein starkes Argument, wenn man sinniert, was die Protagonisten etwas in „House of Cards“ politisch durchsetzen wollen. Die Ziele sind ungefähr so, als hätten sich Greta und die Jungliberalen zusammengetan, um den Kapitalismus zu erklären. Ein Klischee reiht sich ans andere: Von NGOs und ihrer fragwürdigen „Entwicklungshilfe“ bis zum Dalai Lama, der positiv und plakativ auftaucht und den unpolitischen und pseudofeministischen Mittelschichts-Tussen von Pussy Riot, die natürlich von der Präsidenten-Mischpoke hofiert werden. So stellt sich Hillary Clinton den modernen Kapitalismus vor. Die Armen brauchen mehr Geld usw. – eine Robinhoodisierung der Systemfrage, wie sie hier auch die „Linke“ betreibt: den Reichen nehmen und denen da unten geben. Machiavelli für Kinder eben.

Mich amüsiert, dass in „House of Cards“ die „Volksmassen“, in deren Namen agiert und Politik gemacht wird, nur als dumpfer Pöbel auftaucht, der sich beliebig manipulieren lässt – für jeden Zweck. Das müsste sich hier jemand trauen: Parteitage nur als Kulisse, was sie sind, darzustellen, und oben drüber groß das Motto: „Inhalte überwinden“. Das würden die öffentlich-rechtlichen Anstalten nie zulassen. Wo bliebe der volkserzieherische Auftrag?

Die US-Amerikaner sind offenbar künstlerisch weiter. Als marxistisch geschulter Zyniker werde ich natürlich jetzt erst recht neugierig. Was sagt es über den Stand der Klassenkämpfe aus, wenn die Mittelklasse, für die solche Serien gemacht sind, mit bloßem Entertainment à la Förster vom Silberwald nicht mehr zufriedengestellt werden kann? Mittelklasse deshalb, weil die gesamte Ikonografie inklusive der Kostüme passt wie das kleine Schwarze auf den Hintern eines Mädels aus der Werbebranche. Alle Frauen tragen immerzu Stöckelschuhe, alle sind, auch wenn sie fluchen, höflich. Ich hörte gefühlt eine Milliarde Mal „thank you“. Das wird nie, nie vergessen. In Wahrheit fällt niemand aus der Rolle, sogar beim Morden. Natürlich sagt in „House of Cards“ niemand nigger. Und, was unbedingt im Sinne der political correctness sein muss: Eine Weiße hat sogar Sex mit einem Schwarzen. Man vergewissert sich gegenseitig – Filmemacher und Publikum -, dass man das nicht als Skandal sieht. Donald Trump würde nicht hineinpassen: Der missachtet zwar nicht die Regeln der herrschenden Klasse, aber die Verhaltenskodices und den unausgesprochenen common sense, was vermutlich einer der Gründe der unteren Klassen ist, ihn zu wählen. Die tun das bekanntlich auch nicht.

House of cards

Polit-Serien tragen so zur Reproduktion eines liberalen und instrumentalistischen Bilds von Politik bei, wenn man die Forschung zum Einfluss popkultureller Darstellungen auf politische Einstellungen betrachtet. Damit fügen sich Polit-Serien, wie auch die Politikwissenschaft, in ein Politikverständnis, das antipolitischen Ressentiments Vorschub leisten kann.

Jetzt eine Gegenrede. Mir fehlt das Thema Charaktermaske. Das politische Geschehen ist zu sehr das Ergebnis dessen, was die „Spieler“ wollen und ihrer Interaktion. Der Illusion entsteht, dass man nur „gute“, womöglich ehrliche Politgestalten brauchte, um etwas zu ändern. In „House of Cards“ bestimmt das Bewusstein das Sein und nicht umgekehrt. Alle sind immer so, wie sie immer waren, schwere oder leichte Kindheit, je nachdem. Spannend wäre zu erfahren, ob jemand, der „von unten“ käme, sich anpasste(n) (müsste) oder nicht.

Mich lässt die Serie irgendwie kopfkratzend zurück: Müsste die Linke (nicht die Partei) so machtversessen, intrigant, zynisch und korrupt sein, um an der Macht bleiben zu können? Sollte sie das moralische Gesülze (Frieden! Keine Kriege!) einfach lassen, weil man die Herrschenden nur mit deren eigenen Mitteln schlagen kann? Man müsste Lenin fragen.

Oder wir warten, bis endlich Im Namen des Volkes mit englischen Untertiteln bei Netflix oder Amazon gestreamt wird. Ich fürchte, das wird nicht geschehen.