Dolchstoß oder: Revolution von oben

haffner verrat Ich lese gerade nebenbei von Sebastian Haffner Der Verrat: Deutschland 1918/1919. Haffner schreibt feuilletonistisch, daher sind seine Bücher gut zu lesen, mit dem Nachteil, dass die Quellen selten angegeben werden, und dass er, wie bei bürgerlichen Historikern ebenfalls üblich, oft psychologisiert (man dürfte auch sagen: herumspekuliert) und Geschichte eher nach der Maxime analysiert, dass „große Männer“ sie machten.

Dennoch sind Details interessant und überraschend – hier der 29. September 1918, am Vorabend der „Revolution“ (mit Absicht in Anführungszeichen). Erich Ludendorff, der de facto die Regierung führte und Minister nach seiner Wahl eingesetzt oder entlassen hatte, erkannte, dass die militärische Niederlage an der Westfront drohte. Das hatte bis dahin niemand für möglich gehalten. Ludendorff votierte für ein sofortiges Waffenstillstandsangebot an US-Präsident Wilson und für eine Parlamentarisierung der Regierung.

Ludendorff war kein Vertreter der alten herrschenden Klasse, also des Adels, sondern vertrat, wie Haffner schreibt, „die neue bürgerliche Herrenklasse Deutschlands, wie während des Krieges die alte Aristokratie mehr und mehr beiseite drängte….“ Sein Plan sei gewesen, um das Militär zu retten, den Parlamentarismus zu installieren, damit nach Ende des Krieges die „Demokraten“ den schwarzen Peter für den so genannten Dolchstoß in die Schuhe geschoben bekamen. „Um aber die Ehre der Armee zu retten, mußte das Waffenstillstandsgesuch von der Regierung ausgehen, nicht etwa von der Obersten Heeresleitung. Es mußte politisch motiviert werden, nicht militärisch.“

Das war mir bisher nicht so klar gewesen. (Interessant: Wikipedia gibt zu diesem – in der Forschung umstrittenen Punkt – nur englische Quellen an.) Eine Mehrheit im Reichstag, seinen Plan anzunehmen, konnte nur garantiert werden, wenn man auch die (damals gespaltene) SPD mit ins Boot nahm.

Haffner zitiert aus der Erinnerungen einiger Beteiligten, unter anderem auch Paul von Hintze, den Stellvertreter Ludendorffs.
Ludendorff hatte anscheinend zunächst nur an einen Eintritt von Vertretern der Sozialdemokraten, der Fortschrittspartei und des Zentrums in die bestehende Regierung gedacht, um das plötzliche Friedensangebot und Waffenstillstandsgesuch zu motivieren. Das genüge nicht, meinte Hintze. Angesichts der „katastrophalen Wirkung für Heer, Volk, Reich und Monarchie“, die zu befürchten sei, müsse ein vollständiger, sichtbarer, dramatischer Systemwechsel erfolgen, eine Verfassungsänderung, eine „Revolution von oben„. (Der Ausdruck fiel zuerst in diesem Gespräch. Ob er von Hintze oder von Ludendorff als erstem gebraucht wurde, ist ungeklärt.) Ludendorff fürchtete zunächst, das Waffenstillstandsgesuch könne dadurch verzögert werden; aber dann machte er sich den Gedanken des Staatssekretärs schnell zueigen. Eine „Revolution von oben“ das leuchtete ihm ein…

Nun wird noch einmal klar, welche Rolle die Führung der Sozialdemokratie später spielen würde, wenn es darum ging, die Revolution abzuwürgen: die des nützlichen Idioten, der noch, wenn er am Schluss ebenfalls abserviert wird, „gern geschehen“ sagt.

Es kam, wie es kommen sollte: Nur die Konservativen* und die USPD waren dagegen. Das würde heutzutage eine Shitstorm der Ein- und Vielfältigen in sozialen Medien ergeben: Oha! Eine „Querfront“ der Rechten und extremen Linken!
________________________________

*Von Hintze war Sohn eines Kapitalisten, kein Mitglied der alten Aristokratie. Man sieht, dass es innerhalb der herrschenden Klasse starke Differenzen gab und diejenigen, die am flexibelsten reagieren, obsiegten. Wenn wir schon bei schrägen Vergleichen sind: Merkel als Charaktermaske ist Ludendorff und die „Konservativen“ die AfD.