Fakten versus literarische Qualität

Der „Spiegel“ hat den Fall Relotius jetzt aufgearbeitet. Der Abschlussbericht ist lesenswert – man sollte ihn ohne Häme studieren.

Am 11. November 2015 schickte ein Leser, nach eigenen Angaben Lektor für Fachmagazine, eine E-Mail an die Adresse chef-redaktion@spiegel.de. Darin wies er ruhig und detailliert auf Fehler in der Relotius-Geschichte »Blindgänger« (…) hin, nachdem er den Text mit einer einfachen Google-Recherche überprüft hatte. Der Chefredaktionsaccount, auf dem die E-Mail einging, wird vom Sekretariat der Chefredaktion verwaltet. Die Kolleginnen dort leiteten die E-Mail am selben Tag weiter, das konnte die Kommission im Ausgangsfach überprüfen; die E-Mail ging korrekterweise an Klaus Brinkbäumer und den für Relotius zuständigen Ressortleiter Matthias Geyer. Es gibt dort keine Hinweise darauf, dass jemand dem Leser geantwortet hat.

Unfassbar. Was macht denn die Dokumentation, auf die der „Spiegel“ so stolz ist, beruflich? Noch nicht einmal Google benutzen? Ein Teil der Antwort kommt später: „… im Ressort arbeitete nur noch eine Halbtagskraft.“

Die Kommission hat mehrere Faktoren identifiziert, die eine systemische Rolle im Fall des Claas Relotius gespielt haben könnten.
• Die Stilform der Reportage, die möglicherweise für Fälschungen besonders anfällig ist.
• Der Druck durch Journalistenpreise.
• Die besondere Konstruktion des Gesellschaftsressorts innerhalb des SPIEGEL.
• Die Dokumentation, die beim Aufspüren von Fehlern, die den Fälscher möglicherweise entlarvt hätten, versagt hat.
• Der Umgang mit Fehlern

Ceterum censeo: Journalistenpreise abschaffen! Journalisten, die sich gegenseitig bepreisen? Wie blöde ist das denn? Die ehemalige stellvertretende Chefredakteurin Susanne Beyer bestätigte im Gespräch mit der Kommission, dass von der Chefredaktion Journalistenpreise ausdrücklich gewünscht worden seien. Zu welchem Zweck? Und wie kann man einen solchen Wunsch umsetzen?

Besonders gefährdet und anfällig für Ausschmückungen und Fehleinschätzungen scheint die Form der »szenischen Re-konstruktion«, wie sie im „Spiegel“ auch in den szenischen Einstiegen häufig genutzt wird.

Auch „szenische Einstiege“ sind albern und klingen fast immer bemüht. Ich habe meinen Studenten abgeraten, so etwas zu benutzen. Wer oder was also zwingt den „Spiegel“ und anderen Medien, darauf zurückzugreifen? Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie? Wolf Schneider? Oder was? Lasst es einfach.