Soll man lachen oder weinen? Oder: Was in den Nachttopf werfen? [Update]

Ballhausschwur

Der Ballhausschwur, 20. Juni 1789

In den letzten Tagen saß ich mit Freunden zusammen, die, gute Argumente vortragend, meine Meinung zu einigen Dingen geändert haben, was bekanntlich selten vorkommt und nur durch meine peer group, nie jedoch durch Medien, und schon gar nicht durch die so genannten „sozialen“ Netzwerke.

By the way: Ich bin jetzt dafür, der Berliner Flughafen Tegel zu schließen. Vorher war ich das nicht.

Jetzt aber zur morgigen Wahl. Um uns darauf einzustimmen, lesen wir gemeinsam Erich Mühsam über Parlamentarischen Kretenismus. Fertig? Dann singen wir jetzt noch ein Lied der SPD, der „Grünen“ und der „Linken“:

„Das freie Wahlrecht ist das Zei-hei-chen,
in dem wir siegen, nun wohlan!
nicht predigen wir Haß den Reichen,
nur gleiches Recht für je-hedermann,
nur gleiches Rä-hächt für je-he-dermann!“

Echo: Tarifpartnerschaft, Friedenspflicht, gerechter Lohn, fairer Handel, Nachhaltigkeit, Arbeitergeber, Arbeitnehmer und alle sonstigen hohlen Neusprech-Phrasen, insbesondere der Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbonzen.

Marx hatte übrigens in seinem häufig zitierten Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte angemerkt, die Gesamtheit der Bourgeoisie herrsche im Namen des Volkes. Eine detaillierte Theorie, wie der Staat im Kapitalismus zu beurteilen sei, findet sich jedoch bei Marx nicht (vgl. den klugen Artikel von Thomas Schmidinger in der Jungle World v. 29.01.2009).

Der Staat ist ein Ausschuss der herrschenden Klasse. Die demokratische Form des Staates im Kapitalismus ist nur einer von mehreren Optionen der Herrschenden; sie suggeriert, dass alle Klassen sich darüber einig seien, bestimmte Regeln einzuhalten und sich nicht gegenseitig abzumurksen. Die herrschende Klasse stimmt dem aber nur taktisch zu, sie kann auch anders, sobald jemand die Machtfrage stellte. (Vgl. Weimarer Republik, den Putsch in Chile usw.)

Erich Mühsam dazu: „Soll man lachen oder weinen? Die ganze revolutionäre Rückständigkeit des deutschen Proletariats ist allein auf den parlamentarischen Kretinismus zurückzuführen, in dem ehrgeizige, unwissende und in bourgeoiser Ideologie verkommene Führer es hielten, bis es von keiner anderen Waffe mehr wusste als vom Stimmzettel, bis es den Nachttopf, in den es alle fünf Jahre ein vorgedrucktes Papier legen durfte, wie einen Fetisch anbetete, bis es zugunsten seiner gewählten und mit jeder Vollmacht ausgestatteten „Vertreter“ auf den Rest eigenen Denkens, eigenen Entschließens, ja eigenen Empfindens verzichtete, bis es, ‚Heil dir im Siegerkranz‚ und die ‚Wacht am Rhein‚ grölend, blindlings und fatalistisch in den Weltkrieg hineinstolperte.“

Vier Fotzen für ein Halleluja

Wie sieht es also aus? Ich wollte ohnehin meine Erststimme taktisch vergeben, da es hier in Neukölln ein Kopf-an-Kopf-Rennen gibt zwischen einem Altphilologen mit fahrradfahrerfreundlichem Namen gibt und einer christlichen Juristin. Ich werde den Mann wählen. Wenn das Rennen schon gelaufen wäre, hatte ich eine bessere Wahl.

Was aber tun mit der entscheidenden Zweitstimme? Ich wollte nur eine Partei wählen, die sehr gut ist und deren Werbung mich überzeugt (vgl. oben). Die Situation hat sich aber wenige Tage vor der Wahl geändert. Die „Linke“ und die „AfD“ liegen in aktuellen Umfragen nur ein bis zwei Prozentpunkte auseinander.

Ich halte die AfD nicht für gefährlich. Damit stehe ich unter den Linken ziemlich allein. Für mich zählt nur die economy, stupid, alles andere ist Lifestyle und Feuilleton. Rechtspopulisten und Volkswirtschaft-Esoteriker (was bei der AfD identisch ist) sind alle Kamellen und nicht neu; man müsste das historisch sehen. Natürlich quirlen bei der AfD unterschiedliche Milieus zusammen, wie bei allen rechten Sammlungsbewegungen seit 1945, von Wutbürgern bis hin zu Nazis – und das sind mitnichten Synonyme. Es interessiert mich auch nicht, ob die Volkswirtschaftler-Sekte AfD rassistische Thesen verbreitet oder genderpolitisch nicht dem Mainstream entspricht. Wie ich schon anmerkte: In Deutschland geht es nie im Inhalte, sondern immer um kleinbürgerliche Verhaltensnormen, wer was wie sagen darf und wer sich wie benimmt. Da ziehe ich nicht mit. Das lenkt doch nur ab.

Die „Linke“ ist für mich nicht wirklich links, solange reformistische Sprechblasenfacharbeiter da das Sagen haben, und unter anderem wegen ihrer Positionen zum Thema Religion unwählbar. Aber wenn ich die Erststimme taktisch einsetze, warum nicht auch die Zweitstimme?! Immerhin ist es ja so, dass ein guten Wahlergebnis der „Linken“ alle anderen mehr ärgert, als käme die AfD über 15 Prozent.

Ich werde also wider (das heißt „gegen“, liebe Nachgeborene!) meine politische Überzeugung die „Linke“ wählen und vermutlich vorher und nachher einen Magenbitter zu mir nehmen, dass ich nicht kotzen muss.

[Update] Die Antwort auf alles