Noch mehr Kohle oder: Pipelines of the New Great Game

Warum streiten sich Russland und die Türkei? Wer hat welche Interessen in Syrien? Ich fühle mich durch die Medien nicht wirklich informiert und hatte mir die Hausaufgabe gestellt, das selbst zu recherchieren. Und natürlich die zwei journalistischen Fragen zu beantworten, die alles beantworten: „Wo kommt die Kohle her? Wo geht die Kohle hin?“ (Matthew D. Rose)

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Wenn man sich das Gerangel um die Pipeline South Stream genauer ansieht, merkt man schon, wohin der Hase bzw. das Öl ungefähr laufen. Das russische und Erdgas soll immer nach Europa – aber wie? Russland ist der weltgrößte Produzent von Rohöl und der zweitgrößte Produzent von Erdgas. „Russia’s economy is highly dependent on its hydrocarbons, and oil and natural gas revenues account for more than 50% of the federal budget revenues.“

South Stream sollte von Russland durch das Schwarze Meer über Bulgarien laufen; die Pipeline hätte die Ukraine umgangen. Noch 2009 war geplant, den russischen Konzern Gazprom auch an den Erdölfeldern des italienischen Konzerns Eni in Libyen zu beteiligen, was aus den bekannten Gründen und nicht zufällig scheiterte. Ebenfalls 2009 schlossen Russland und die Türkei einen Vertrag, der den Bau durch türkische Hoheitsgewässer erlaubte. Telepolis informierte schon 2010 ausführlich über den geplanten Bau weiterer Pipelines, die Türkei werde „künftig das bedeutendste Transitland für russisches Erdgas“. Gazprom, Eni und der türkische Staat kooperieren auch bei der Pipeline Blue Stream – die Leitung endet direkt in Ankara. [Eine schöne Übersicht der Pipelines mit Karten hat Geopipelitics.]

Neben der Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, die jährlich 50 Millionen Tonnen Rohöl an die türkische Mittelmeerküste transportiert, ist die Türkei der Energieverteiler für das Erdöl aus dem nordirakischen Kirkuk. Die Irak-Türkei-Pipeline existiert bereits seit 1970 und kann jährlich bis zu 70 Millionen Tonnen Erdöl bis nach Ceyhan transportieren. Wenn die Samsun-Ceyhan-Pipeline in Betrieb genommen wird, können 190 Millionen Tonnen Öl über den Hafen von Ceyhan gehandelt – damit wäre Ceyhan der größte Energieknotenpunkt der Welt.

Die schönen Pläne von damals haben nicht alle funktioniert. Russland gab das Projekt South Stream auf, nachdem Bulgarien sich dem Druck westlicher Politiker gebeugt hatte und sich der Kooperation verweigerte. Auch die Burgas-Alexandroupolis-Ölpipeline scheiterte. (Die Mehrheit an der Transbalkan Oil Pipeline Company hielten übrigens die russischen Staatsfirmen Rosneft, Transneft und Gazprom Neft). Im Gegenzug wollte Putin den Handel mit der Türkei verdreifachen. Als Alternative zu dem gescheiterten South-Stream-Projekt sollte Turkish Stream ausgebaut werden – auch das Projekt wurde nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei in Syrien gestoppt.

Kirkuk, der Ausgangspunkt der Irak-Türkei-Pipeline, wird mittlerweile durch die Kurden kontrolliert, was weder der Türkei noch der irakischen Marionetten-Regierung gefallen wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Meldung der WCG („WCG is an international investment management group“) aus dem Jahr 2013:
Kurdistan has begun to export crude oil directly to world oil markets through Turkey, industry sources said on Monday, which poses the biggest challenge yet to Baghdad’s claim to full control over Iraqi oil. The export of crude, in addition to small volumes of niche condensate, demonstrates the semi-autonomous region’s growing frustration with Baghdad as it moves towards ever greater economic independence, the sources said.

Dazu passte Jens Bergers Satz in Telepolis von vor sechs Jahren: „Die Türkei will künftig zum größten Energiehub der Welt werden. Dies geht natürlich nur, wenn man mit Iran und vor allem mit Russland kooperiert.“

Dummerweise kooperiert die Türkei jetzt nicht mehr mit Russland – wegen Putins Eingreifen in Syrien. Jörg Kronauer hat in „Strategtische Feindschaft“ (konkret 2/2016) dargelegt, dass die Türkei in in hohem Maße von russischen Erdgaslieferungen abhängt. Die Wählerbasis Erdogans ist eine neue (Klein)Bougeoisie, die vom Wirtschaftswachstum seit 2002 profitierte. Daher konnte Erdogan es sich auch zeitweilig leisten, sich ökonomisch nicht nur zum „Westen“ hin zu orientieren, der Eintritt der Türkei in die Europäische Union war nicht mehr auf der To-Do-Liste. Türkische Firmen investierten damals auch groß in Syrien. Noch vor einem Jahr war Russland der größe Importeur der Türkei, der zweitgrößte Finanzier der türkischen Tourismusindustrie, türkische Baufirmen waren mit Russland dick im Geschäft. Das ist jetzt vorbei.

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Grund dafür ist der so genannte Arabische Frühling und seine weder geplanten noch erwarteten Resultate. Der Revolte der arabischen Völker gegen die Machthaber, die vom westlichen Kapital massiv unterstützt wurde, stärkte den „Islamismus“ und den Terror des Daesh aka „Islamischer Staat“. Erdogans AKP will aber eine Islamisierung des Staates und hat gute Kontakte zu ähnlichen Organisationen, wie etwa zur Nahda-Bewegung in Tunesien, zur ägyptischen Muslim-Bruderschaft* und stützte die Islamisten (die im westlichen Propaganda-Sprech „gemäßigte Rebellen“ genannt werden) in Syrien.

Kronauer schreibt: „Mit ihrer Parteinahme für die Islamisten in der arabischen Welt hatte die Türkei sich allerdings zugleich auch gegen Russland gestellt.“ Mit anderen Worten: Das türkische Kapital profitierte von einem Ausbau der ökonomischen Verflechtungen mit Russland; die Wählerschaft Erdogans ist aber eher die reaktionäre Kleinbourgeoisie und aufstiegsorientierte Jungwähler. Der österreichische Sozialwissenschaftler Franz Seifert: „Letztlich läuft die Politik der AKP auf eine Mischung aus Wertekonservativismus und Neoliberalismus hinaus, ähnlich den christlichsozialen Parteien bei uns: Eigenverantwortung, Familienzusammenhalt und Almosen statt Sozialstaat, Gemeindeorganisation statt Zentralregierung.“

Jetzt kommen die OMV Aktiengesellschaft aka internationalen Konzerne ins Spiel. Der OMV gehört auch die türkische Petrol Ofisi, das führende „Unternehmen im Tankstellen- und Kundengeschäft“. Es geht um die Katar-Türkei-Pipeline.

Foreign Affairs schreibt:
In 1989, Qatar and Iran began to develop the South Pars/North Dome field, which is buried 3,000 meters below the floor of the Persian Gulf. With 51 trillion cubic meters of gas and 50 billion cubic meters of liquid condensates, it is the largest natural gas field in the world. Approximately one-third of its riches lie in Iranian waters and two-thirds in Qatari ones.
Since the discovery, Qatar has invested heavily in liquefied natural gas (LNG) plants and terminals that enable it to ship its gas around the world in tankers. Yet liquefaction and shipping increase total costs and, particularly as gas prices have slipped, Qatari gas has remained easily undercut in European markets by cheaper pipeline gas from Russia and elsewhere. And so, in 2009, Qatar proposed to build a pipeline to send its gas northwest via Saudi Arabia, Jordan, and Syria to Turkey, an investment of billions of dollars up front that would reduce transportation costs over the long term. However, Syrian President Bashar al Assad refused to sign the plan; Russia, which did not want to see its position in European gas markets undermined, put him under intense pressure not to.

Der Guardian hat das alles schon ausführlich vor zwei Jahren beschrieben: „Syria intervention plan fueled by oil interests“.
Assad refused to sign a proposed agreement with Qatar that would run a pipeline from the latter’s North field, contiguous with Iran’s South Pars field, through Saudi Arabia, Jordan, Syria and on to Turkey, with a view to supply European markets – albeit crucially bypassing Russia. An Agence France-Presse report claimed Assad’s rationale was „to protect the interests of [his] Russian ally, which is Europe’s top supplier of natural gas“.

Instead, the following year, Assad pursued negotiations for an alternative $10 billion pipeline plan with Iran, across Iraq to Syria, that would also potentially allow Iran to supply gas to Europe from its South Pars field shared with Qatar. The Memorandum of Understanding (MoU) for the project was signed in July 2012 – just as Syria’s civil war was spreading to Damascus and Aleppo – and earlier this year Iraq signed a framework agreement for construction of the gas pipelines. The Iran-Iraq-Syria pipeline plan was a „direct slap in the face“ to Qatar’s plans. **

Das erklärt auch, warum der Iran und Russland in Syrien zusammenarbeiten – gegen Katar, Saudi-Arabien und die Türkei.

Meine Fragen zum Thema habe ich mir einigermaßen beantwortet. Der russische Konzern Gazprom, die BASF-Tochter Wintershall, Eon, Shell, Engie und OMV (siehe oben) haben übrigens schon im September 2015 in Wladiwostok einen Vertrag unterzeichnet, zwei zusätzliche Nord-Stream-Pipelines zu bauen. Das wird Turkish Stream überflüssig machen.

Man kann auch sagen: Erdogan (auch nur eine Charaktermaske) hat sich in die Scheiße geritten. Das internationale Kapital (u.a. aka OMV) ist bei Öl und Gas tendenziell gegen ihn. Aber das braucht ihn nicht zu interessieren, solange seine Wähler das nicht mitkriegen.

* vgl. Aslı Vatansever: „Die Muslimbrüder und die AKP: Die Blinden und der Einaeugige“, Zeitschrift für Weltgeschichte, Volume 14, Number 2, 2013, pp. 159-182(24)
** Richard Perle hat in seinem Strategiepapier „A Clean Break: A New Strategy for Securing the Realm“ schon 1996 vorgeschlagen, den Irak und Syrien als Staaten zu zerstören.