Levante oder: Sykes-Picot, reloaded [Update]

Die New York Times schrieb schon vor zwei Jahren ganz richtig: „Russia has long argued that the West should not support popular uprisings against dictatorships in the Middle East lest Islamic fundamentalism take hold.“ Genau das ist in Syrien und im Irak jetzt eingetroffen: Die stärkste Macht nach dem Abzug der neo-imperialistischen „Koalition der Willigen“ ist die sich „islamisch“ kostümierende ISIL („Islamischer Staat im Irak und in der Levante“).

Die Levante ist ein Synonym für das „Morgenland“, also alles, was der durchschnttliche ungebildete Mitteleuropäer für den „Orient“ im Sinne Karl Mays hält; man könnte auch „Vorderer Orient“ sagen, über den man heutzutage in Deutschland nicht viel weiß. Der ideelle Gesamt-Oberstudienrat assoziiert vielleicht noch „Bagdad-Bahn“ und hat zusätzlich noch ein paar Sätze Peter Scholl-Latours behalten, die gesamte US-Orientpolitik sei ein totaler Fehlschlag undsoweiter.

Die deutschen Mainstream-Medien bleiben leider, aber nicht unerwartet auf Karl-May-Niveau und „erklären“ die aktuelle politische Gemengelage mit „Machtstreben“ und „Religion“ oder – wie gewohnt – mit „Extremismus“. Damit kann man praktisch alles seit dem 30-jährigen Krieg beschreiben – also nichts.

Andererseits wissen wir, dass die Geschichte immer eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, also ein Kampf um ökonomische Ressourcen, der sich aber eben auch religiös kostümieren kann. Damit kommt man schon ein wenig weiter, wenn man genau hinschaut.

osmanisches reich

Source: Wikipedia: „Karte des Osmanischen Reiches“ mit den Provinzen Mossul (heute Kurdistan), Basra (heute der schiitische Teil des Irak) und Bagdad (sunnitischer Teil des Irak).

Ich habe mich ein wenig umgesehen und eine Stunde kostbarer Lebenszeit geopfert, einen Parforceritt durch die Jahrhunderte gemacht, um mir zu erklären, was aus allem zwischen Bagdad und Stambul zukünftig wohl werden wird.

Alle heutigen Staaten im „Morgenland“ sind aus dem Osmanischen Reich entstanden, dem Konkurrenten und späteren „Erben“ des Byzantinischen Reiches -, also einem Gebiet, das im Osten ungefähr das uralte Mesopotamien umfasst, und im Westen die Anrainerstaaten des Mittelmeeres, zwischen der anatolischen Halbinsel und Ägypten, also die ehemaligen Staaten Irak und Syrien, dann Jordanien, Israel, den Libanon sowie das real schon existierende Kurdistan. (Update: Erstaunlicherweise ist die „Grenze“ zwischen der „Levante“ und dem Irak immer noch da, wo sie zur Zeit der Kriege zwischem dem Römischen Reich und den Sassaniden (Persern) war.)

„Die Araber“ kommen erst im Ersten Weltkrieg ins Spiel. Die heutige Situation ist gar nicht neu, Sondern hat sich ganz ähnlich schon einmal ergeben. Damals versprachen die imperialistischen Mächte England und Frankreich den Armeniern im Osten der Türkei einen selbständigen Staat, was zum Völkermord der Türken an den Armeniern führte. Auch den Arabern wurde von den Engländern auch „Freiheit“ versprochen (verfilmt in „Lawrence von Arabien„). Heute wiederholt sich die Geschichte in Lybien, Syrien und dem Irak: die alten und neuen imperialistischen Mächte versprechen denjenigne, die gegen die einheimsichen Diktatoren aufbegehren, die „Freiheit“ (also das in Wahrheit das „Privileg“, dass ausländischen Konzernen neue Märkte eröffnmet werden), aber denken im Traum nicht daran, sondern verfolgen nur die eigenen Interessen.

University of Michigan: The outbreak of World War I found Turkey lined up with the Central Powers. Although Turkish troops succeeded against the Allies in the Gallipoli campaign (1915), Arabia rose against Turkish rule, and British forces occupied (1917) Baghdad and Jerusalem. In 1918, Turkish resistance collapsed in Asia and Europe. An armistice was concluded in October, and the Ottoman Empire came to an end. The Treaty of Sèvres confirmed its dissolution. With the victory of the Turkish nationalists, who had refused to accept the peace terms and overthrew the sultan in 1922, modern Turkey’s history began.

levante

Credits:“Geschichte der Araber“, Bd. 2: „Die Araber im Kampf gegen osmanische Despotie und europäische Kolonialeroberung“, Autorenkollektiv, Akademie-Verlag Berlin (DDR) 1975 (in meinem Besitz). „Prior to World War I, three Mesopotamian provinces centered on Basra, Baghdad, and Mosul, formed part of the Ottoman Empire. When the Empire was divided in 1920, the League of Nations, a precursor to the United Nations, gave the British a Mandate to establish a new nation-state in the region.“ (Quelle)

Ein pädagogisch wertvolles Beispiel ist das Sykes-Picot-Abkommen, „eine geheime Übereinkunft zwischen den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, durch die deren koloniale Interessensgebiete im Nahen Osten nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg festgelegt wurden.“

By the way: Erst der Sieg der Revolution in Russland machte diesen Geheimvertrag öffentlich. „Die bolschewistische Regierung veröffentlichte daraufhin den Inhalt des geheimen Sykes-Picot-Abkommens am 23. November 1917 in den russischen Tageszeitungen Prawda und Iswestija. Drei Tage später erschien der Inhalt des Abkommens auch in der britischen Tageszeitung The Guardian. Die Veröffentlichung löste große Verärgerung unter den Entente-Mächten und wachsendes Misstrauen bei den Arabern aus, was die Arabische Revolte zusätzlich anstachelte.“

Offiziell gab es nur den Vertrag von Sèvres (10.08.1920): „Durch den Vertrag von Sèvres hätte das Osmanische Reich einen Großteil seines Territoriums verloren. Hedschas (dieses wurde 1925 von Saudi-Arabien erobert), Armenien und Mesopotamien sollten unabhängig werden. Kurdistan sollte gemäß Artikel 62 Autonomie erhalten, durch Artikel 64 wurde darüber hinaus auch eine mögliche staatliche Unabhängigkeit in Aussicht gestellt.“

Das Völkerbundmandat für Syrien und Libanon gab England und Frankreich 1920 das Recht, eigene „Staaten“ nach Gutdünken zu erschaffen. Wenn etwas geschah, was den Kolonialmächten nicht passte, griffen die ein und zerschlugen das neue Gebilde wieder (vgl. Evolution des Völkerbundmandates für Syrien und Libanon) oder errichteten eine Marionetten-Regierung. Diese Konzepte – divide et impera – sind sehr aktuell – was man nicht nur am Beispiel des heutigen Libyen sehen kann.

levante

Credits: Levante (Wikipedia, made from a public domain map of the CIA)

Zur Geschichte der ISIL empfehle ich Foreignpolicy.com („A Trusted Advisor for Global Leaders When the Stakes are Highest“): „The Beginning of a Caliphate: The Spread of ISIS, in Five Maps“. Da sich übrigens Saddam Hussein vorwiegend auf die sunnitischen Familien-Clans (die von deutschen Medien von sinnlos als „Stämme“ bezeichnet werden) stützte, kann es durchaus ein Revival derjenigen Koalitionen geben, die den Irak unter Saddam kontrollierten, aber eben ohne den Südosten und Kurdistan. Wikipedia: „Nach Angaben eines Funktionärs der kurdischen DPK sind die meisten Rebellen, die sich der ISIL-Offensive angeschlossen haben, keine Islamisten, sondern nicht-radikale sunnitische Iraker, die mit der schiitischen Maliki-Regierung nicht einverstanden sind[96]. Als Grund nennen sie vielfältige Diskriminierung durch die schiitisch dominierte irakische Regierung“.

Interessant, dass die Idee der pseudo-islamischen ISIL – die ja von den reaktionären Golfstaaten finanziert und indirekt von den USA bewaffnet wird – eines „Kalifats“ in ihrer Geographie dem alten arabischen Konzept von Groß-Syrien frappierend ähnelt:
Die Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem vom Irak ausgehende politische Konzeption eines vereinten Fruchtbaren Halbmondes spannt einen geographischen Bogen vom Irak über Syrien und Jordanien bis Libanon und Palästina, die meisten Großsyrien-Konzeptionen hingegen schließen den Irak nicht ein. Einige Extremvarianten erstrecken sich jedoch über das gesamte Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel, Jordanien, Irak, Kuwait, Zypern, die Palästinensergebiete sowie Teile der Türkei (Hatay), Ägyptens (Sinai), Saudi-Arabiens (Syrische Wüste, Dschauf) und Irans (Chuzestan).

Es geht natürlich um Öl, wie die Karte unten von der Website mit dem hübschen Ttel „Securing America’s Future Energy“ zeigt.

oil fields iraq

Credits: „Securing America’s Future Energy

Wer werden also mehrere staatenähnliche Gebilde bekommen: Das frühere Syrien, aber verkleinert, Kurdistan, das sich wie ein Sperriegel zwischen die Türkei und Bagdad legen wird, einen schiitischen geprägten Rest-Irak sowie ein Niemandsland, das von der ISIL beherrscht wird. Der Vordere Orient wird also immer mehr denjenigen Teilen Afrikas ähneln, deren durch die Kolonialmächte geschaffenen „Staatsgrenzen“ niemand mehr ernst nimmt, sondern die durch wechselnde Koalitionen lokaler Warlords, korrupter einheimischer „Eliten“ und ausländische Konzerne geprägt werden – mit dem Unterschied, dass die Bodenschätze Afrikas aktuell nicht so wichtig sind wie das Öl.