Der Geschmack des gemeinen Volks

volkstümlich

Dilegua, o notte! Tramontate, stelle!
Tramontate, stelle! All’alba vincerò!
Vincerò! Vincerò!
(Arie des Prinzen Kalaf in „Turandot“ von Giacomo Puccini)

Ich schaue nur selten fern, meistens um einzuschlafen, also früh am Morgen. Deswegen würde ich bei jeder Quizsendung, bei der es darum geht, Leute zu kennen, die man nur aus dem Fernsehen kennen kann, wie der letze Depp dastehen. Paul Potts (Bild links) habe ich zufällig bei Youtube gefunden, als ich nach „Flashmobs“ suchte und mir dann seine „first audition“ angesehen habe. Und von Susan Boyle (Bild rechts) hatte ich noch nie was gehört.

Diese so genannten „Talentshows“ sind aus völkerkundlicher soziologischer Sicht sehr interessant. Sie leben von einem Versprechen, was im Unterbewusstsein des gemeinen Volkes schlummert: Man könne die Klassenschranken überwinden, wenn man sich nur bemühe. (Nein, es geht überhaupt nicht darum, des eigenen Glückes Schmied zu sein.) Wer „berühmt“ ist und viel Geld verdient, hat den sozialen Aufstieg geschafft. Umgekehrt funktioniert das genauso: Der typische Mittelschichtsdiskurs handelt davon, wie man sich von denen da untern abzugrenzen habe, durch Disziplin, Erziehung, Wissen. Das sind natürlich Illusionen, aber davon lebt die Welt. Die Medien im kapitalistischen Zeitalter haben die Aufgabe von der Religion übernommen, die Leute ruhig zu halten, indem sie ihnen ständig vor Augen führen, dass man die eigene bescheidene Lage verbessern könne, wenn man sich nur anstrenge. Die meisten Leute wollen eh am System nichts ändern, sie wollen nur, dass es ihnen selbst nicht schlechter geht als den Nachbarn.

Ich lästere auch nicht wirklich über „Unterschichtenfernsehen“. Das gibt es gar nicht, nur für die Propheten des gehobenen Spießbürgertums wie Harald Schmidt. Das gilt auch für alle Diskussionen über „Geschmack“. Sehr hübsch sagt man über Simon Cowell, der die Mutter aller Talentshows in Großbritannien produziert:
Für Politik interessiert er sich ebenso wenig wie für gutes Essen oder jede Art von Hochkultur. „Ich bin ein Mann von durchschnittlichem Geschmack“, vertraute er einmal dem Playboy in einem Interview an. Er bevorzuge Pizza und Burger und sehe lieber den „Weißen Hai“ oder „Raumschiff Enterprise“ als „irgendwelche polnischen Filme mit Untertiteln“. Doch genau darin sieht er das Rezept für seinen Erfolg: „Wenn mir etwas gefällt, dann stehen die Aussichten sehr gut, dass es auch anderen gefallen wird.“

Nur in Deutschland unterteilt man Literatur noch in „hohe“ Literatur und „triviale“. Im angelsächsischen Sprachraum ist das völlig absurd. Das Proletariat, also die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung, kommt in Kunst, Kultur, Fernsehen und Romanen, die in Deutschland produziert werden, so gut wie nie vor. Wann haben die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser zum letzten Mail ein Buch gelesen, das im Arbeitermilieu spielt – etwa wie Goldsborough von Stefan Heym? (Irrelevant für das deutsche Wikipedia.) Die Mittelschicht produziert sich selbst. Das ist so albern wie ein Schriftsteller, der einen Roman schreibt, in dem alle handelnden Personen Schriftsteller sind. (Hat Walser nicht so was geschrieben?)

Der doppelte Wortsinn von „gemein“ bringt das auf den Punkt.
gemein Adj. ‘gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein, gewöhnlich, niedrig gesinnt, niederträchtig, unfein, unanständig’. Das germ. Adjektiv ahd. gimeini ‘zuteil geworden, bestimmt, gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein, übereinstimmend, zugleich’ (8. Jh.),(…) got. gamains ‘gemeinsam, unheilig’ gehört wie lat. commūnis ‘gemeinsam, gemeinschaftlich, allgemein, gewöhnlich’ (s. Kommune, Kommunismus)

Eben. Aus der Perspektive der Herrschenden und der Mittelschichten sind das Volk und dessen Geschmack „gemein“; die Armen da unten haben die (relative) Not gemeinsam. Weitere lingistische Details und warum in einem etymologischen Wörterbuch bei „gemein“ irgendwann „Kommunismus“ kommt, überlasse ich dem gemeinen Leser und der gemeinen Leserin zu erörtern.