Ludwig lesen oder: Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

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Es gibt keine Glückseligkeit ohne Tugend, ihr habt Recht, ihr Moralisten […] aber merkt es euch, es gibt auch keine Tugend ohne Glückseligkeit – und damit fällt die Moral ins Gebiet der Privatökonomie oder Nationalökonomie. (Ludwig Feuerbach)

Wir machen gleich kurzen Prozess, damit es die Leser nicht allzusehr schmerzt:
Wer wissen will, wie die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, sollte zunächst die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx lesen (1100 Seiten), weil darin die Werttheorie entwickelt wird. Dann die drei Bände des „Kapital“ (rund 3000 Seiten, gefühlt 30.000), nicht zu vergessen Ludwig Feuerbachs „Das Wesen den Christentums sowie alles über „Herrschaft und Knechtschaft in der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ (rund 600 Seiten). Ich erwarte auch fundiertes Wissen in altgriechischer, römischer und mittelalterlicher Geschichte, Grundkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie und die Lektüre der Standardwerke der Ethnologie über Fetischismus – wahlweise 500 Seiten Marcel Mauss oder – wer es ganz exotisch haben will – eine antiquierte Scharteke von Maurice Godelier, zum Beispiel „Oekonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften“.

Jetzt wackeln die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser mit den Köpfen, fragend, was dieser Burks wohl geraucht haben möge, und beschließen, sofort weiterzuzappen auf etwas Leichtes, Beschwingtes und auch für den durchschnittlichen deutschen Fernsehzuschauer verständliches Wortgebräu, das zu verdauen man das Gehirn nicht über Gebühr anstrengen muss, etwa das tägliche Horoskop, den Wirtschaftsteil deutscher Zeitungen die Börsennachrichten der Tagesschau.

Halt! So einfach ist das eben nicht mit der Wirtschaft. Wer Metzger lernen will, braucht ein paar Monate Lehrzeit, um ein Schwein sauber zerlegen zu können. Und ihr wollte mir weismachen, die Prinzipien, wie Ökonomie im Kapitalismus funktioniere, könne man so mal eben aus dem Bauch heraus, per gesundem Volksempfinden, lernen und verstehen – wie das FDP-Funktionäre Volontäre und Journalisten in Deutschland täglich tun? Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

In Wahrheit ist es mit Karl Marx und seinen Ideen noch viel vertrackter. Das ökonomische Hauptwerk „Das Kapital“, dessen Basis schon in den „Grundrissen“ beschrieben wurde, fußt auf dem, was Philosophie und Wirtschaftswissensschaft im frühen 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Marx hat das nur neu und anders interpretiert. Ganz nebenbei nahm er auch heutige Theorien der Wahrnehmungspsychologie vorweg – damals beschäftigte sich die Philosophie mit der Frage: Ist die Welt wirklich so, wie wir sie glauben zu sehen, oder ist sie vielmehr nicht ganz anders? Und wenn die Welt anders ist als wir meinen, wie könnten wir das jemals erfahren?

Ich schrieb über den Warenfetisch: „Im Kapitalismus würden den Waren, dem Geld und schließlich dem Kapital Eigenschaften zugeschrieben, die diese in Wahrheit nicht haben, steht bei Wikidings. Das, was über Wirtschaft gedacht wird, ähnelt dem Abergauben der Religionen, ist also nicht wahr, sondern Unfug. Und das ist zwangsweise so: Die Mehrheit der Leute kann gar nicht anders, aus historischen Gründen, genausowenig wie ein Bauer im alten Ägypten verstanden hätte, dass sich die Erde um die Sonne dreht.“

Das kriegen wir aber erst später.

Stellen wir uns also ganz dumm. Wozu, zum Teufel [sic!], sollte heute noch jemand Ludwig Feuerbach über das Christentum lesen? Der Kerl ist doch schon seit rund 140 Jahren mausetot? Ganz einfach: „Die Religion ist nicht einfach ‚Unsinn‘ oder ‚Aberglaube‘, sie ist die bildhafte Äußerung von Eigenschaften und Impulsen, von ‚Kräften‘, die der Mensch als so wichtig und wesentlich empfindet“. Feuerbach spricht es zwar nicht aus, aber er definierte als erster Philosoph Religion als eine Projektion – im heutigen wissenschaftichen Sinn.

Daraus folgt genau das, was Marx in seinen berühmten Thesen über Feuerbach schreibt: „Feuerbach sieht daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“

Wer das heute sagt, wird immer noch scheel angesehen. Wie? Der religiöse Aberglaube lässt sich aus der jeweiligen Gesellschaft erklären? Wo kämen wir denn da hin? Dann gäbe es doch keine absoluten Wahrheiten mehr und die heiligen Bücher hätten Unrecht? Ja, liebe christlichen Salafisten, so ist es, und das wusste schon Feuerbach – und Marx sowieso.

Die Menschen haben also ein „falsches Bewusstsein“ (Ideologie), sie machen sich Illusionen über sich und das, was die Welt zusammenhält. Diese Projektion ist ja nach Gesellschaftsform unterschiedlich – man könnte modern sagen: In Papua-Neuguinea glaubt man, das Tänze das Wetter beeinflussten, und in deutsche Medien glaubt man daran, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen könne und dass es eine „Konjunktur“ gebe wie die Konjunktion in der Astronomie. Der Singehalt beider Thesen ist ähnlich. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen und bewegt sich. Da kann man nix machen.

Marx hat in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie die Sache mit dem „falschen Bewusstsein“ noch weiter ausgesponnen:
…die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. (…) Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.

Das sind doch höchst aktuelle Sätze! Religion, Esoterik und andere Formen des Aberglaubens sind nicht ausgestorben, wie man vorschnell annehmen könnte, sondern sind äußerst beliebt – und um so mehr, wie der Kapitalismus kriselt und immer mehr Menschen in die Armut und ins gesellschaftliche Aus drängt. Mein Hausphilosoph Lichtenberg schrieb schon vor einem Vierteljahrhundert rund 250 Jahren: „Unsere Welt wird noch so fein werden, daß es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster.“ Leider irrte er, wenn man sich ansieht, wie viele Jugendliche dem Oberpfaffen Benedikt hinterherlaufen oder wie viele Journalisten höhere Wesen verehren und sich auch noch trauen, das öffentlich zuzugeben.

Das Publikum ahnt schon, worauf das hier hinausläuft: Im „Kapital“ wird schon ganz zu Anfang (das erste Kapitel hat rund 100 Seiten) analysiert, dass der Kapitalismus den Menschen zwangläufig eine Art Irrglauben aufzwingt: Sie meinen etwa anderes zu tun und zu haben, als in Wahrheit der Fall ist. Es heisst also nicht „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (was es gibt), sondern: Apologeten des Systems Wirtschafts“wissenschaftler“, die „Arbeitgeber“ mit „Arbeitnehmer“ verwechseln (was genau so ein Unfug ist, aber leider gang und gäbe).

Friedrich Engels schreibt über das übliche affirmative Neusprech:
Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das „Kapital“ den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z.B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird. Auch im Französischen wird travail im gewöhnlichen Leben im Sinn von ‚Beschäftigung‘ gebraucht. Mit Recht aber würden die Franzosen den Ökonomen für verrückt halten, der den Kapitalisten donneur de travail, und den Arbeiter receveur de travail nennen wollte.

„Kauderwelsch“ ist noch ein harmloser Begriff für den Quatsch, der schon damals in den Medien über Ökonomie stand – und unverändert auch heute noch.

Übrigens – hier mitlesende Sozialdemokraten, aufgemerkt! Nicht vergessen, was euer Parteigenosse Eduard Bernstein sehr richtig bemerkte: „Die wichtigsten Stellen sind von Marx so klar und verständlich geschrieben, dass es eigentlich Sünde ist, sie in mein versozialdemokrateltes Deutsch zu übertragen“.