Sie werden assimiliert, revisited oder: Die deutsche Nation

In Wahrheit diskutiert Deutschland noch immer nicht über sich selbst. Für die historische Tradition des Begriffs „Nation“ gilt der Satz Heiner Geisslers: „Es gibt keinen aufgeklärten Nationalismus, der frei ist von Rudimenten totalitärer Vergangenheit.“ Nation ist immer frei erfunden, ein Mythos, der eine subjektive Gemeinschaft konstituieren soll. Der Mythos gibt die „virtuellen Eckwerte vor, die die reale Welt per Gesetz definiert. Wer heute darüber streitet, wer wie Deutscher sein dürfe, kann sich nicht vom historischen Ballast des nationalen Diskurses seit dem 18. Jahrhundert lösen.

Diese kollektive Identität im modernen Sinn existiert nur parallel zur kapitalistischen Industriegesellschaft: Der Mythos Nation ermöglicht eine brüchige Einheit, die rein ökonomisch und politisch weder zu begründen noch zu legitimieren wäre. Der Staat braucht die Nation, um antagonistische Interessengruppen unter einen Hut zu bringen. Kaiser Wilhelm II. formulierte am 4. August 1914, nachdem auch die SPD die Kriegskredite bewilligt hatte, den klassischen Satz: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Stefan Vogt fasste die Geschichte der deutschen Begriffsgeschichte, Nation und Vaterland betreffend, in der These zusammen: „Die Verbürgerlichung der Nation war in Deutschland nur um den Preis der Nationalisierung des Bürgertums zu haben.“

Die Nation als moralische Instanz hat sich im protestantisch geprägten Preussen beispielhaft entwickelt. Im Gegensatz zu Frankreich konzentrierte sich der öffentliche Konsens derjenigen, die zur deutschen Nation gehören durften, seit jeher nicht darauf, die Teilhabe an der politischen Macht zu fordern und an ihr zu partizipieren, sondern, als eine Art kompensatorischer Gratifikation, auf den moralischen Appell an den Gemeinsinn. Emanzipation steht in Deutschland aus historischen Gründen immer unter dem Zwang, sich in das nationale Kollektiv integrieren zu müssen. Diese Tradition war nicht nur in der DDR zu beobachten, sondern ist auch im wiedervereinigten Deutschland hochaktuell.

Nation, wie der Mainstream sie in Deutschland versteht und assoziiert, reproduziert immer noch einen kolonialen Diskurs, der in anderen europäischen Länder schon längst obsolet geworden ist und nur noch in offen rassistischen Parteien gepflegt wird, etwa den Nachfolgeorganisationen der französischen „Front National“. Dieser Art von Nation liegt der Wunsch zugrunde, sich mit einem homogenen Ganzen zu identifizieren, das Bedürfnis, sich des eigenen überlegenen Selbst zu vergewissern. Das Subjekt, der Rassist, kann sich vom „unterlegenen“ Objekt, dem Ausländer, dem Angehörigen einer „fremden“ Kultur, distanzieren, ihn entweder aggressiv ausgrenzen oder ihn als mangelhaftes Wesen sehen mit defizitärer kultureller Identität, den man helfen kann, um das eigene Selbstgefühl zu stärken – ein starkes Motiv für einige Initiativen, die sich scheinbar „für“ Ausländer engagieren. Boshafte Menschen nennen das „Infantilisierung“.

Der Begriff der Nation sagt etwas darüber aus, wer dazugehört und wer nicht. „Ausländer“ ist im strengen Sinne des Wortes eine juristische Kategorie: Ausländer ist, wer nicht zum Staatsvolk gehört. Das scheint unstrittig zu sein. Jemand, der in einem Land lebt, aber nicht Staatsbürger ist, besitzt weniger Rechte. Das ist in keinem Land der Welt anders. Die Menschenrechte gelten jedoch unabhängig nationaler Vorschriften überall. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der UN-Vollversammlung vom 10. Oktober 1948 definiert diese für die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen. Das deutsche Grundgesetz hat viele der Artikel übernommen, aber nicht alle. Der Artikel Eins des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist ein Menschenrecht, das nicht nur für Deutsche, sondern auch für Ausländer in Deutschland gilt.

Das Wort „Ausländer“ wird in Deutschland aber in einem ganz anderen Sinn Sinn benutzt. Es umfasst im öffentlichen Sprachgebrauch Migranten, also Einwanderer, Asylbewerber, Touristen, die sich für eine kurze Zeit in Deutschland aufhalten – aber auch Menschen, die schon viele Jahre in Deutschland leben und dort bleiben wollen, denen aber bis jetzt der deutsche Pass verwehrt wurde. Man darf daran erinnern, dass die Christdemokraten jahrzehntelang behauptete, Deutschland sei kein Einwanderungsland. obwohl fast jedem deutschen Grosstadtbewohner ein Blick aus dem Fenster genügte, um sich von Gegenteil zu überzeugen. Die real existierenden Einwanderer waren Menschen zweiter Klasse, mit minderen Rechten. Eine Diskussion über das umstrittene „Ausländerwahlrecht“ ist hier völlig überflüssig und auch nicht das Thema: Es geht vielmehr darum, ob diese Menschen Ausländer bleiben sollten. Solange die übergrosse Mehrzahl der Einwanderer nicht Deutsche werden, ganz gleich, wie sie behandelt werden, produziert ihr Status permanent Rassismus.

„Nation wie auch Rassismus erfordern zur eigenen Konstitution den Ausschluss des Anderen, dem die Funktion des Feindes und des Opfers zukommt.“1 Diese zentrale These ist zwar Basis der Forschung, welche Ursachen rassistische Vorurteile haben, in Deutschland jedoch nicht mehrheitsfähig. Es scheint sogar fast unmöglich, den diskursiven Mainstream in Medien und Politik aufzubrechen.

Ausländer gehören nicht zur deutschen Nation, und deshalb bleiben sie „fremd“, ob man tolerant ist oder nicht. Alle Versuche, real diskrimierten und rechtlich und sozial benachteiligten Menschen gegenüber Toleranz und andere guten Gefühle einzufordern, werden vergeblich sein. Die ethnisierte Begriff der deutschen Nation ist selbst die Quelle des Rassismus. Er geht von einer Fiktion einer ethnischen Homogenität aus. Hannah Ahrendt stellte den Unterschied zwischen der französischen Nation der Staatsbürger und der deutschen Kulturnation pointiert heraus:
„Der Chauvinismus vor allem französischer Prägung (…) konnte sich in allen möglichen romantischen Verherrlichungen der Vergangenheit, der Toten- und Ahnenkulte ergehen. Er konnte ein unglaubliches Vokabular der Großsprecherei ersinnen und versuchen, die ganze Nation mit ‘gloire’ und ‘grandeur’ besoffen zu machen; aber er hat niemand behauptet, dass Menschen französischer Abstammung, die in einem anderen Lande geboren und erzogen, ohne Kenntnis der französischen Sprache und Kultur, nur dank mysteriöser Qualitäten ihres ‘Blutes’ Stammesfranzosen seien. (…) Die völkische Arroganz ist größer und schlimmer als der chauvinistische Grössenwahn, weil sie ich auf innere unmeßbare Eigenschaften beruft.“2

Und genau das war die Basis des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts und ist es im Bewusstsein der Öffentlichkeit noch heute und wird von den Mulitiplikatoren kollektiver Mythen, insbesondere in den Medien, so formuliert. Die Dichotomie zwischen In- und „Aus“ländern suggeriert, die da draussen müssten sich denen da drinnen kulturell angleichen, die inneren
Eigenschaften des Deutschen übernehmen, um in den Genuss derer Privilegien zu kommen. Der vorgebliche „fremdenfreundliche“ und verzweifelt hilflose Pro-Ausländer-Diskurs kann diesem Dilemma nicht entrinnen, er produziert erst die Vorurteile, die er eigentlich bekämpfen will.

Die Fiktion der Kulturnation kann alternativ in verschiedene sprachliche Formen gegossen werden, als „Bekenntnis zum deutschen Volkstum“ oder schlicht Assimilation, obwohl niemand weiß, wann die erreicht sein könnte. Der CDU-Poliker Meinhard Belle zum Beispiel behautpet: „Unabdingbar für die Einbürgerung ist die Beherrschung der deutschen Sprache. Sie ist grundlegende Voraussetzung und Schlüssel für die Integration.“ Integration in was? Und wie sieht das Ergebnis aus? Ein Migrant, der die Sprache seines neuen Heimatlandes nicht lernt, ist schlicht dumm und darf sich nicht wundern, wenn er weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. Aber war hat das mit der Einbürgerung zu tun?

Kulturelle Identität, national gedacht, ist ein politisches Projekt: Der Begriff der Nation fordert etwas – die Teilhabe an der „Ausländer“ in Deutschland ist immer ein Widerspruch in sich. Er gehört nicht dazu, was sein juristischer Status unzweideutig beweist. Die Nation schliesst ihn aus, er ist ihr fremd. Alle Versuche, diesen Status im Bewusstsein der Öffentlichkeit (oder gar der Rassisten) nur per Appell zum Positiven zu ändern, sind verlogen und sinnlos. Der Rassismus in Deutschland wird kodiert durch den „Ausländer“-Diskurs; der dient als eine Art verbaler und sozialverträglicher Verpackung, um den Inhalt nicht benennen zu müssen. Hans Magnus Enzensberger schreibt:

„Obwohl der Idee der Nation nichts Handfestes mehr entspricht, lebt sie subjektiv, als Illusion, äußerst zäh weiter. Illusionen von solchen Ausmßen sind aber ernst zu nehmen. Sie sind ihrerseits Realitäten, und zwar psychologische Realitäten von explosiver Kraft. Ich habe mich oft gefragt, was uns so fest an diese Zwangsvorstellungen fesselt. Vermutlich ist es uns zu mühsam, eigene Ressentiments und Komplexe, Idiosynkrasien und Neurosen zu entwickeln. Das Phantom der Nation stellt jedermann ein präfabriziertes seelisches Meublement zur Verfügung, in dem er sich preiswert einrichten kann. Noch dazu handelt es sich um ein Sortiment von der Stange, das die eigene Auswahl überflüssig macht und den enormen Vorzug hat, daá man es mit vielen anderen teilt. Das schafft eine gewisse behagliche Solidarität, wie man sie etwa unter Leuten beobachten kann, die dasselbe Automodell fahren.“

1. Kien Nghi Ha: Ethnizität und Migration, S. 12
2. Hannah Ahrendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Totalitarismus, Imperialismus. München/Zürich 1998, S. 481f.

Erschienen 2000 in Burkhard Schröder: Nazis sind Pop