Nackte Frauen, Schweine und die Ware an sich

Baubo

Die sicherste Methode, die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser von diesem gesellschaftlich irrelevanten Blog alsbald zu vertreiben, ist, ein Posting mit Zitaten von Aristoteles und Thomas von Aquin zu beginnen. Auf vielfachen Wunsch des harten Kerns tu ich das doch – und jetzt erst recht.

Ich zweifle übrigens an den edlen Motiven der Leserschaft: Wer würde heute noch 1500 Seiten dröge Lektüre in Kauf nehmen, um zu verstehen, wie Wirtschaft funktioniert? Und wer liest länger als fünf Minuten ein Blog – außer es geht um nackte Weiber (oder Männer – aber ich glaube nicht, dass ich Leserinnen habe)? Wollt Ihr das also wirklich? Wer jetzt schon bereut, kann sich ja stattdessen Fleisch ohne Text reinziehen.

Also von hinten nach vorn: Was käme dabei heraus, wenn man sich die Marxsche Werttheorie antäte? Zum Beispiel die Erkenntnis, dass manche Philosophen im alten Griechenland wesentlich tiefschürfender dachten als heutige „Volks“wirtschaftler“ und andere Dummschwätzer und dass – daraus folgend – die Menschheit nicht klüger wird, sondern das Dümmerwerden durchaus eine ernst zu nehmende Option der Evolution zu sein scheint.

Ich warne also: Wer mir nicht sofort widerspricht, wenn sie oder er das Folgende rezipiert hat, darf das in Zukunft auch nicht mehr. Wer akzeptiert, dass zwei mal zwei vier ist, darf nicht meckern, wenn ich später behaupte, vier mal vier seien sechzehn. Ja, man ahnt es schon: erstens geht es heute um den Wert an sich („Geld“ und „Kapital“ kommen erst später), und zweitens sagt Karl Marx nichts anderes als Aristoteles dazu; ersterer drückt es nur klarer aus und nimmt aktuellere Beispiele. Wer aber die Werttheorie Marxens nicht mit guten Argumenten falsifiziert, darf auch nicht herumnörgeln, wenn wir später das Ausbeutungsverhältnis der Lohnarbeit, den tendeziellen Fall der Profitrate und den Kapitalismus an sich kriegen.

Nehmen wir den christlichen Philosophen Thomas von Aquin (†1274):
Der Wert der Dinge aber, die zum Nutzen des Menschen in Umlauf kommen, wird nach dem bezahlten Preis bemessen. (…) Teurer verkaufen oder billiger einkaufen, als eine Sache wert ist, ist also an sich ungerecht und unerlaubt.

Ist das richtig? Im 13. Jahrhundert dachte man offenbar nicht anders als die heutige Glaubensgemeinschaft des „fairen“ Preises und Handels und des „gerechten“ Lohns. Es geht hier aber nicht um Moral und Theologie, sondern darum, die Ökonomie wissenschaftlich zu beschreiben. Wer sagt, ein bestimmter Preis sei ungerecht, muss auch sagen, dass die Zahl Pi unfair ist, weil man sie so schwer berechnen kann und weil man, wenn man sie betrachtet, unweigerlich beim Buffonschen Nadelproblem landet, was einem den ganzen Tag versauen kann.

Erster Einwand: Geht das überhaupt, die Wirtschaft wissenschaftlich zu analysieren? Sind da nicht zu viele Variablen im Spiel? Gute Frage! Wenn es einem aber gelänge, vom Konkreten zu abstrahieren, also etwas streng Logisches zu finden, das Gesetzen folgt. wären wir schon einen Schritt weiter in Richtung Induktion. Und das wäre kein Kaffeesatzlesen oder Astrologie wie der Wirtschaftsteil deutscher Medien und dem Gefasel der Gläubigen des niederen Wesens „freier Markt“, sondern richtige Wissenschaft, deren Schlüsse andere nachvollziehen können.

Hier also Marx im Originalton über die Methode (Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, aus dem Nachlass, 1903 zum ersten Mal veröffentlicht):

Es scheint das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. (…) Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der erste Weg ist der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z.B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von dem einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode.

Baubo

Was also ist eine Ware – also was haben Waren im Neolithikum, im alten Sparta und im heutigen Havanna und Chicago gemeinsam?

Eine Ware hat einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Beide sind selbstredend nicht identisch. „Geld“ oder gar die Kategorie „Preis“ sind hier noch gar nicht im Spiel – man kann sich auch Gesellschaften vorstellen, die kein Geld haben, sondern Naturalien tauschen.

Weder der Gebrauchswert noch der Tauschwert sind „natürliche“ Eigenschaften der Dinge. Im Tauschwert steckt jedoch etwas Anderes. „Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ‚Erscheinungsform‘ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein,“ schreibt Marx in Das Kapital.

Man kann das auch anders sehen. Wer aber subjektive Gefühle ins Spiel bringt wie manche „Volks“wirtschafts-Groupies, der sollte erst gar nicht von einem wissenschaftlichen Anspruch reden – das ist nichts anderes als primitive Populärpsychologie.

Aristoteles schreibt das in seiner Nikomachischen Ethik so:
Daß aber das Bedürfnis als eine verbindende Einheit die Menschen zusammenhält, erhellt daraus, daß wenn kein Teil des anderen bedarf, oder auch nur der eine des anderen nicht, sie in keinen Verkehr des Austausches treten, wie sie es tun, wenn der eine Teil dessen benötigt, was der andere hat,…

Der Tauschwert verkörpert „irgendwie“ die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für ein Produkt, das als Ware auftaucht. Wenn alle Produzenten einer autarkten Gemeinschaft plötzlich weniger Zeit und Aufwand brauchten, um ein bestimmtes Ding herzustellen, weil sie zum Beispiel bessere Werkzeuge haben, dann sinkt der Tauschwert. Oder: Die Wertgröße wechselt mit der Produktivkraft.

Übrigens gibt es einen Streit unter „Marxisten“, den die Apparatschiks leider sowohl in der ehemaligen Sowjetunion als natürlich auch in der DDR unter den Tisch kehrten. Dort wurde Marx bekanntlich als eine Art Religionsstifter angesehen, dessen Werke man nicht als bloßes Werkzeug ansah, sondern als heilige Schriften, die die absolute Wahrheit verkündeten – oder das, was die jeweiligen Parteifunktionäre meinten daraus machen zu müssen. In diesem Streit geht es um die erkenntnistheoretische Frage, ob die Fähigkeit, überhaupt abstrakt zu denken, also sich ein „Drittes“ vorzustellen, das zwei völlig unterschiedliche Dinge erst vergleichbar macht, nicht ein Produkt des Tausches ist. Der marxistische britische Altphilologe George Thomson gehört zu dieser Denkschule, insbesondere aber Alfred Sohn-Rethel oder auch der von ihm beeinflusste Rudolf Müller mit seinem Hauptwerk „Geld und Geist„. Ich sehe das übrigens nicht so; die Idee ist aber sehr interessant.

Demnächst mehr in diese Theater.