Der grosse Markteingriff, Newton und das Abstrakte

kapitalismus

Die Europäische Zentralbank will in den Markt eingreifen und marode Staatsanleihen kaufen. Oha! Was sagt denn die Glaubensgemeinschaft des „freien“ Marktes“ dazu? Schafft die EZB jetzt den Kapitalismus ab, droht gar Stamokap am Horizont oder geben die Apologeten der freiheitlich-demokratischen soziale Marktordnung klammheimlich zu, dass der Markt irgendetwas verkehrt gemacht hat?

Um diese Frage zu klären, müssen wir kurz diskutieren, warum die Pharaonen keine Dampfmaschinen hatten und die alten Römer keine Taschenlampenbatterien. So albern sich das anhört – aber das ist ungeheuer kompliziert zu beantworten.

Die Kategorie des Fortschritts ist primär eine soziale Kategorie. (…) Soziologisch betrachtet ist die neuzeitliche Wissenschaft eine kulturelle Innovation, die (…) schrittweise in die Gesellschaft integriert wird. (…) … es ist zweifellos klar, daß die wissenschaftlichen Leistungen Galileis (1564-1642) und Newtons (1643-1727) ohne Parallele sind. Galilei schafft ein geschlossenes System der Kinematik, in dem im Prinzip alle mechanischen Bewegungen auf die präziseste Weise, d.i. mathematisch, bestimmt sind. Newton ergänzt diese System um den dynamischen Teil und schafft damit die klassische Mechanik. (…) es ist also genau das 17. Jh., das einen scharfen Schnitt zwischen die kulturellen Prozesse des westlichen Europa und die der anderen Kulturen legt,…“ (Wolfgang Kron: Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, in: Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1976)

Man kann also nicht einfach behaupten, die Ägypter und Römer hätten einfach nur lange genug nachdenken müssen, dann wären sie schon drauf gekommen, wie das herzustellen sei. Und warum war die Menschheit erst im 17. Jahrhundert in der Lage, die Mechanik theoretisch zu formulieren, obwohl die alten Mayas sogar den Kegelumlauf der Erdachse auf Grund der Präzession der Erde ausrechnen könnten, ein Zeitraum, der immerhin rund 25000 Jahre beträgt?

Jetzt wird es kosmologisch. Wir fragen uns in Wahrheit, ob die Menschheit sich irgendwo hinentwickelt, immer höher, größer, weiter, besser, schöner, reicher, intelligenter, immer mehr Wachsstum. In der Philosophie nennt man so etwas teleologisch, also die Idee, alles sei einem großen Zweck untergeordnet, machte also einen „Sinn“. Das ist natürlich religiöse Denke, und ein Zen-Meister würde sowieso vor Lachen vom Balkon fallen.

Nicht anders argumentieren aber unsere Wirtschaftsexperten, Volkswirtschafts-Professoren und andere Hobby-Astrologen. Der „Markt“ sei schon seit dem Neolithikum dagewesen, seitdem jemand die Klaue eines Säbelzahntigers gegen einen Faustkeil tauschte, „Wachstum“ gehe bis zum Sankt Nimmerleinstag weiter, obwohl wir nicht so recht wissen, wie immer mehr Leute immer mehr Produkte kaufen sollen und trotzdem immer mehr Geld verdienen, und wenn die Menschen nur rational dächten, würden wir auch noch in 5000 Jahren, wenn Perry Rhodan und Meister Joda die Weltherrschaft übernommen haben, den „freien Markt“ und vom Kapitalismus verherrlichen. Sagt mal, Leute, ist soweit noch alles klar in eurem Oberstübchen? Geht’s noch?

Was unterscheidet eigentlich die altägyptische und altrömische Ökonomie von der heutigen? Märkte existierten auch dort, oder? Sogar ohne Publikumsjoker weiß jedes Kind, dass es in der Antike (und nicht nur dort) nur wenig Lohnarbeit, dafür aber um so mehr Sklavenarbeit gab, obwohl sogar im römischen Imperium der Anteil freier Bauern an der Produktion überwog. Sklaven wurden vor allem in Latifundien (wieso ist der deutsche Wikipedia-Eintrag so ein Mist?) eingesetzt. Sklaven waren keine Menschen, sondern Objekte – wie Tiere im bürgerlichen Gesetzbuch. Offenbar war aber die Organisation gesellschaftlicher Arbeit (aka die Produktionsverhältnisse) mit menschlichen Tieren nicht besonders effektiv, denn die Römer waren noch nicht einmal in der Lage, die Dreifelderwirtschaft einzuführen, die im 12. Jahrhundert in Mitteleuropa zu einem ungeheuren Produktionsschub und zum Bevölkerungsanstieg führte.

Also wieder die Frage nach der real nicht existierenden altägyptischen Dampfmaschine und der römischen Taschenlampenbatterie. Die philosphisch vorgebildeten Leserinnen und auch sonst intellektuell anspruchsvollen Leser werden schon gemerkt habe, dass Burks jetzt zwei wissenschaftliche Begriffe unterjubeln bzw. einführen will, mit Hilfe derer man gar trefflich die Welt interpretieren und verstehen kann:

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse (der Wikipedia-Eintrag ist ein Schmarrn), die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.

Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Quelle)

Also dieser „Überbau“, der hat es in sich – der ist fast so unangenehm wie diese pöhsen Trojaner, die – wenn man deutschen Medien glaubt -, so unangefragt auf meinen Rechner beamen. Der“ Überbau“ scheint es irgendwie verhindert zu haben, dass die Pharaonen Dampfmaschinen benutzten und die alten Römer Taschenlampen, obwohl sie mit Fußbodenheizungen offenbar keine Probleme hatten. Oder waren des jetzt die „Produktivkräfte“?

Um mit der Frage gleich ins Haus zu fallen: Wie und unter welchen Umständen und warum entsteht überhapt abstraktes Denken? Das eben wird vorausgesetzt, wenn wir jemals auf die Idee kämen, uns mit der Marxschen Werttheorie zu beschäftigen – was ich ja schon angekündigt habe. (Ich meine nicht die Fähigkeit der geschätzten Leserinnen und werten Leser abstrakt zu denken, sondern die, eine Theorie der Ware im Kapitalismus, des Gebrauchswerts und des Tauschwerts und was daraus alles folgt, entwickeln zu können. Das Theorem des Pythagoras ist ja auch nicht vom Himmel gefallen.)

Was wiederum vorausgesetzt wird, um die These zu verifizieren, man könne mit der marxistischen Lehre von der Ökonomie wunderbar erklären, warum es eine „Euro-Krise“, „Schulden-Krise“ gibt und ob was tun kann und wie das alles enden wird (ja was eigentlich ist „krisenhaft“ und wer hat die Schulden warum bei wem?).

To speak frankly (im Englischen hört sich das viel klarer an): Ich halte die „Wirtschaftsexperten“ und bürgerlichen Volkswirtschaftler fast allesamt für Scharlatane und interessegeleitete Esoteriker, deren Abstraktionsniveau und wissenschaftliches Instrumentarium, ökonomische Vorgänge im Kapitalismus zu erklären, nicht weiter entwickelt sind als das der katholischen Kirche im Mittelalter. Die sagen noch nicht einmal, welcher „volkswirtschaftlichen“ Schule – von denen es viele gibt wie schon zu Marx‘ Zeiten und die sich zum Teil diametral widersprechen – sie angehören. Mal kommt dieses in Mode, mal jenes, mal soll es der Markt radikal „richten“ wie unter Maggy Thatcher, mal soll der Staat wieder eingreifen zum großen Markteingriff. Wenn Chemiker so argumentierten, wäre vermutlich schon die halbe Welt entweder vergiftet oder weggesprengt worden. Und wenn ein Physiker oder Biologe so vage herumfaselte, würde er aus jedem Proseminar an der Uni geworfen.

Es ist sogar noch schlimmer: Das Wissen und die Methoden, die Gesetze des Kapitalismus nachzuvollziehen und zu begreifen und anderen zu erläutern, sind ja da. Sie ignorieren es. Aber man erwartet ja auch nicht vom Papst, dass er beweist, dass die Atheisten Recht haben und dass Götter nur Projektionen des Allzumenschlichen sind.

Da brüllt und schäumt jetzt das Kapitalismus-affine Publikum: Gesetze? Welche Gesetze? In der Wirtschaft?! Zu viele Variablen – die freidemokratische supersoziale Martkwirtschaft ist doch wie das Wetter: Einfach langfristig beobachten und sich je nach zu vermutender Witterung passend kleiden.

Nein, so ist es nicht. Ein Biologe würde kühl antworten: Wirtschaft ist kein Feuilleton, sondern Teil der Evolution, wie der Homo sapiens höchstderoselbst, und natürlich gibt es auch dort Gesetze, wie die Naturgesetze – also Phänomene, die man mit geeigneten wissenschaftlichen Methoden beoabachten und interpretieren kann. Zwar kann man auch in der Biologie oder in der Physik nicht vorhersagen, wann warum ein einzelnes Blatt vom Baum fällt, aber man weiss doch, was ein Wald ist und wie lange Bäume ungefähr leben und was passierte, wenn man ihn abfackelte. Doch welche Methoden sind geeignet? Doch nicht die, die „Wachstum“ und „Markt“ Und „Kapitalimus“ aka „soziale Marktwrtschaft“ wie Fetische oder Mumien der Ahnen singend und beschwörend vor sich her tragen und jeden, der das kopfschüttelnd kritisiert, ins soziale Abseits stoßen!

Übrigens streiten zwei Marxistische Schulen darüber, welche materiellen Voraussetzungen vorliegen müssen, damit abstraktes Denken möglich ist. In den Ländern des so genannten autoriären Staats“sozialismus“ wurde so etwas Anspruchsvolles oder gar ein wissenschaftlicher Streit nicht erlaubt; die Partei hatte immer recht und mochten die Parteibonzen auch intellektuell so einfach gestrickt sein wie ein Dackdecker aus dem Saarland. Die eine Schule, zu der etwa der britische Altphilologe George Derwent Thomson, der Philosoph und Soziologe Alfred Sohn-Rethel und Rudolf Wolfgang Müller („Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“) gehören, meint, dass in der ‚Realabstraktion des Warentausches‘ die „entscheidende Bedingung für den Erwerb formal-abstrakten Denkens“ liege. Um diese Abstraktion geht es übrigen in den ersten Kapiteln im Marxschen „Kapital“, das die Wertlehre darlegt.

Die andere – und in der Wissenschaft vergessene – Schule wird etwa vertreten durch Wolfgang Lefèvre, einen Weggefährten Rudi Dutschkes. Ich hatte als junger Student die Ehre und das Vergnügen, zu einem philosophischen Oberseminar Lefèvre eingeladen zu werden, das der Vorbereitung seiner Dissertation diente. Ich fühle mich dieser Denkrichtung zugehörig. Wir haben uns damals den Kopf zerbrochen, warum ausgerechnet im 17. Jahrhundert ein Newton die Mechanik entwickelte und nicht später oder früher. (Ich war damals zuständig für die Wirtschaft im Feudalismus und musste zum Glück Newton nicht lesen.) Kurz gesagt: Wir meinten im Gegensatz zu Sohn-Rethel, dass nur der Arbeitsprozess selbst abstraktes Denken ermögliche.

Da aber alle Leser dieses Blogs ohnehin schon weggezappt sind, wenn Opa aus dem Krieg erzählt Burks Anekdoten aus seinem Philosophie-Studium zum Besten gibt, will ich das nicht weiter ausführen. Es läse ja doch niemand.

Ich versichere aber glaubhaft, dass das obige verbal Gerüttelte und Geschüttelte etwas mit den nicht vorhandenen altägpytischen und römischen Dampfmaschinen und Taschenlampenbatterien sowie der Marxschen Wertlehre und der Wissenschaft von den Gesetzen des Kapitalismus und der „Schulden-Krise“ Griechenlands zu tun hat. Aber davon mehr in Kürze.