Angst vor dem Absturz

Was lese ich im Nachwort zu Oskar Maria Grafs Roman „Anton Sittinger„? (Meine Ausgabe ist von 1979. Heute würde sich vermutlich kaum noch jemand trauen, das so in einem Roman-Nachwort zu formulieren – man würde gleich unter das „Linksextremismus“-Verdikt fallen:)

„Untersuchungen über den deutschen Faschismus der zwanziger und dreißiger Jahre haben ergeben, daß bürgerliche Mittelschichten, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, als Mitglieder, Anhänger und Wähler der NSDAP deutlich überrepräsentiert waren. Angehörige der freien Berufe, Angestellte, Handwerker, Kaufleute, Beamte waren prozentual in der NSDAP fast doppelt So stark vertreten wie in der Gesamtheit der Bevölkerung. Bei den Wählern der NSDAP fällt dieser Befund gar noch deutlicher auf.“

Die von mir sehr verehrte >Barbara Ehrenreich hat vor zehn Jahren ein Buch mit dem Titel „Fear of Falling: The Inner Life of the Middle Class“ (deutsch 1994). Dort wird – mit besseren Argumenten – die aktuelle Diskussion vorweggenommen, die aktuell durch die Medien rauscht (natürlich erwähnt niemand Ehrenreich – das ist auch eine Frage der Bildung, die Journalisten eben nicht automatisch haben).

So what? Karl Marx schrieb 1856 lapidar über die so genannten „Mittelschichten“, die damals wesentlich kleiner als heute waren und die er „Kleinbourgeoisie“ nannte: „Die Konzentration des Kapitals hat sich beschleunigt und, als natürliche Folge, auch der Ruin der Kleinbourgeoisie. Eine Art von Industriekönigen ist entstanden, deren Macht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Verantwortlichkeit steht, sind sie doch nur bis zur Höhe ihrer Aktien haftbar, während sie über das gesamte Kapital der Gesellschaft verfügen.“ Kommt den heutigen Zeitgenossen das irgendwie bekannt vor?

Wer etwas zu verlieren hat, hat Angst, dass ihm etwas genommen hat. Das ist eine Binsenweisheit, die allerdings noch nicht bei unseren „Rechtsextremismus-Experten“ angekommen ist, die immer noch die Unterschichten (aka Arbeitslose) für das Böse in der Gesellschaft haftbar machen wollen. Rassistische und antisemitische Vorurteile, also falsche Schuldzuweisungen für Probleme, sind bei männlichen Facharbeitern am weitesten verbreitet. Die unteren Mittelschichten wählen am ehesten Rechtspopulisten oder FDP, wobei die Unterschiede marginal sind. Die oberen Mittelschichten, denen gefühlt noch der Aufstieg möglich wäre, wählen in Deutschland (noch) grün. (Schon Mitte des 19. Jahrhunderts gab es einen „demokatischen Teil der Kleinbourgeoisie“, vgl. Marx‘Brief an Wilhelm Bracke).

Was soll also das Gerede, jetzt plötzlich fürchteten sich die Mittelschichten vor diesem oder jenem? Der Sinn und Zweck des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist es bekanntlich, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Wäre es anders, stimmte etwas nicht. spiegel offline: „‚Die Tendenzen, die wir beobachtet haben, zeigen eindeutig einen Trend zur Vergrößerung der Einkommensgegensätze'“, sagt Studien-Co-Autor Jan Goebel vom DIW. Dieser Trend habe sich seit dem Jahr 2000 verstärkt.“

Das hat mit allem möglichen zu tun, zum Beispiel mit dem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate, dem der Kapitalismus genau wo wenig entrinnen kann wie ein Dinosaurier dem Aussterben. „Es ist dies in jeder Beziehung das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehn. Es ist vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz. Es ist ein Gesetz, das trotz seiner Einfachheit bisher nie begriffen und noch weniger bewußt ausgesprochen worden ist.“

Hallo? Wollen wir das Niveau ein bisschen anheben, bitte? „Profit“ heisst nicht einfach „viel Geld“, sondern ist eine ökonomische Kategorie (Wikipedia ganz richtig: „Es gibt keine grundsätzlichen Unterschiede zwischen bürgerlicher und marxistischer Profitrate.“) Man kann dazu sogar kluge Bücher lesen! Für deutsche Journalisten ist das jedoch zu anspruchsvoll – die machen lieber wie Welt Offline gleich reine und faktenfreie Propaganda für’s System: „Schließlich gehört noch immer die große Mehrheit der Bevölkerung zur Mitte.“ Man könnte sich totlachen, wenn man nicht wüsste, das die das ernst meinen.

Die „Angst vor dem Absturz“ ist also eine sehr alte und schon ziemlich lahme Sau, die sich mühsam durch’s deutsche Mediendorf schleppt, angetrieben nur noch von den Medien, die – sich ängstlich umblickend – von allen anderen abschreiben, weil sie fürchten, man könne sie böse angucken, wenn sie nicht das tun, was alle anderen tun und schreiben. Wie Anton Sittinger eben.