Zeitschrift für Humanismus und Aufklärung 3/99     Petra Caysa Ein Wanderprediger in Ostdeutschland Die vermeintlichen Folgen von Kollektiverziehung in der DDR Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kollektivzwang, Zuwendungsentzug und Ausländerfeindlichkeit? Der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer meint ja. Er klärt jetzt die Ostdeutschen darüber auf, wie verhängnisvoll der DDR-Erziehungsstil war. Seit einem Vortrag in der Magdeburger Pauluskirche am 11. März 1999 führt der Direktor des renommierten Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen nicht nur eine repräsentative wissenschaftliche Existenz. Christian Pfeiffer ist jetzt eine Art Medienstar, seine Auftritte haben den Status von medialen Großereignissen. Erreicht hat er das mit seiner provokanten These über den DDR-Erziehungsstil. Ihn macht er für die unter Teilen der ostdeutschen Jugend herrschende erhöhte Fremdenfeindlichkeit verantwortlich. Er besetzte damit ein Themenfeld der Ost-West-Beziehungen, das bislang verwaist war und auf dem er nunmehr ein Deutungsmonopol beansprucht. Mit dem mittlerweile berühmten "Töpfchenfoto", das Krippenkinder bei der kollektiven Darmentleerung zeigt, setzte er ein optisches Highlight in Umlauf, das nach medialer Verwertung geradezu schrie.   Ein Erziehungsstil mit bösen Folgen? Als Fazit aus eigenen wie fremden statistischen Erhebungen bilanziert Pfeiffer beunruhigende Fakten: Legt man den Anteil von Ausländern an der Wohnbevölkerung zugrunde, so lebt ein ausländischer Bürger in den neuen Bundesländern mit einem etwa 27fach höherem Risiko als in den alten Bundesländern, Opfer einer fremdenfeindlich motivierten Gewalttat durch Jugendliche zu werden. Bezogen auf die gesamte Bevölkerungszahl ereignen sich in den östlichen Bundesländern 4,7mal so viele Überfälle auf Ausländer wie in den westlichen. Und schließlich, so das dritte signifikante Merkmal des einschlägigen statistischen Materials, begehen ostdeutsche Jugendliche derartige Delikte zu über 50 Prozent aus einer Gruppe heraus. Im Westen hingegen liegt dieser Prozentsatz lediglich bei etwa 20 Prozent. Christian Pfeiffer interpretiert diese statistisch gesicherten Daten unter Rückbezug auf ein nahezu idealtypisch konstruiertes Erklärungsmodell, das er den "Erziehungsstil der DDR" nennt. In der DDR dominierte nach seiner Ansicht ein autoritärer Erziehungsstil. Dessen nachhaltige Wirkungen haben auch nach zehn Jahren deutscher Einheit nichts von ihrer prägenden Kraft eingebüßt. Kennzeichen dieses Erziehungsstils sind: zu frühe und zu lange Trennung der Kinder von ihren Eltern (Krippen, Kindergärten, Ganztagsschulen mit Hort); mit den Kindereinrichtungen, Schulen und Jugendorganisationen institutionalisierte der Staat DDR einen Gruppenzwang, der die individuellen Entwicklungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen weitgehend ignorierte; diese staatlichen Erziehungseinrichtungen, organisiert nach starren Regeln, litten unter chronischem Personalmangel und waren gehalten, ideologische Erziehungsparameter der SED zu vollstrecken; das erste Erziehungsziel bestand nicht, entgegen anders lautender Absichtserklärungen, in der freien Entfaltung der (sozialistischen) Persönlichkeit, sondern in der Verfertigung von Untertanen, die preußisch-sozialistische Tugenden wie Fleiss, Pünktlichkeit, Ordnung, Disziplin und Obrigkeitsglaube auszeichnen sollten; die organisierte DDR-Erziehung übte ihre Zöglinge in ein idealisiertes Selbstbild ein und machte für Missstände und Defizite stets einen (imaginierten Klassen-)Feind, niemals aber das eigene System verantwortlich; erlebbare und damit auch verarbeitbare Erfahrungen mit Fremden und Fremdem reduzierten sich in der eingemauerten DDR auf ein Minimum. Kinder und Jugendliche, an denen solch ein Erziehungsstil vollzogen wurde, mutierten zu "emotional verarmte(n) Kinderseelen". In zwangsweiser Kollektivsozialisation zu Ich-schwachen Persönlichkeiten subjektiviert, disziplinierten sie sich zu Erziehungsobjekten. Die Fähigkeit, auftretende Konflikte mit friedlichen, demokratischen Mitteln auszutragen, blieb ihnen strukturell versagt.   Wie im Kopf aus Fremden Feinde werden Unter Berufung auf Studien und theoretische Analysen zum "autoritären Charakter" deutet Pfeiffer die verhängnisvolle Verbindung von Ausländerfeindlichkeit und DDR-Erziehungsstil: "Welcher Zusammenhang besteht zwischen einem derartigen Erziehungsstil und der Entstehung von fremdenfeindlichen Einstellungen und Verhaltensweisen? Antworten darauf haben viele gegeben: Theodor W. Adorno ebenso wie (der ostdeutsche Psychologe Hans-Joachim) Maaz und zuletzt die Hildesheimer Sozialwissenschaftlerin Christel Hopf. Ihr gemeinsames Fazit: Wer in Kindheit und Jugend einer autoritären Gruppenerziehung ausgesetzt ist und zu wenig an individueller Zuwendung und Förderung erfährt, ist in der Entwicklung eines gelassenen Selbstvertrauens behindert. Im Vergleich zu einem jungen Menschen, dem in seiner Sozialisation bessere Chancen zur freien Entfaltung seiner Persönlichkeit geboten wurden, wird er Fremde viel eher als bedrohlich erleben und als Feinde definieren. Wenn er dann noch erlebt, dass die Schuld an Missständen der eigenen Welt ständig einem externen Sündenbock zugeschrieben wird, verstärkt dies die Neigung, später selbst nach diesem Muster zu verfahren: Wer die Schülerinnen und Schüler zum Haß auf den politischen Gegner aufruft, darf sich nicht wundern, wenn solche Feindbilder auf alles Fremde übertragen werden." Pfeiffers Interpretationen entbehren nicht einer gewissen Logik. Zu Recht verweist er auf das Ungenügen der gebetsmühlenartigen Erklärungen von Politikern, die das größere Armuts- wie Arbeitslosigkeitsrisiko im Osten als hinreichenden Grund für die deutlich ausgeprägten fremdenfeindlichen Einstellungen und die unverkennbare Gewaltbereitschaft eines Teils der ostdeutschen Jugendlichen ausmachen. Zudem bemüht sich Pfeiffer um Klarheit in seiner Argumentation. Er sieht die Gefahr einer monokausalen Zurechnung und zeigt sich bereit, neben dem DDR-Erziehungsstil auch andere Faktoren zu berücksichtigen. Dazu zählt er "problematische Westimporte" aus dem Arsenal rechter und rechtsextremer Ideologien ebenso wie "Systemschwächen" des marktorientierten Kapitalismus wie Konkurrenzdenken und Ellenbogenmentalität. Diese Faktoren wirken als Verstärker im Trend von Fremdenfeindlichkeit. Sie verdanken ihre Entstehung nicht dem pädagogischen Autoritarismus der DDR, gedeihen allerdings auf dessen fruchtbarem Boden besonders üppig. Christian Pfeiffer hat sich unter den Ostdeutschen keine Freunde gemacht. Sein Urteilsspruch provoziert eine Abwehrhaltung, die ihre Rechtfertigung darin findet, nicht auch noch auf diesem Gebiet die Entwertung gelebten Lebens hinnehmen zu müssen. Die mehrheitlich rumorende Verweigerung, die Pfeiffers öffentliche Auftritte begleitet, basiert zunächst auf dem erfahrungsgesättigten Gespür der Ostdeutschen, dass hier (zum wiederholten Male) ein westdeutscher Diskurs etabliert werden soll, der glaubt, ohne das Verstehen anderer Lebenserfahrungen auskommen zu können. Und in der Tat bewegt sich der Westdeutsche Christian Pfeiffer mit seiner Aufklärungstour gleich einem Wanderprediger in den ostdeutschen Ländern, ob er dies nun beabsichtigt oder nicht. Den bislang Uneinsichtigen bringt er die frohe und schließlich mit ein bisschen guten Willen auch akzeptable Botschaft, wie diese ihre "pädagogische Vergangenheit" zu bewältigen hätten. Das ist nicht nur eine Frage des Stils. In der öffentlich eingenommenen Pose dokumentiert Pfeiffer nahezu körpersprachlich fassbar, wie wenig ihn die ostdeutsche Lebenserfahrung interessiert. Für ihn klafft zwischen Dissidenz und überzeugter Regimetreue eine Lücke, die sein Erklärungsmuster nur schwer zu überbrücken vermag. Pfeiffers Schwäche liegt im Zuhören, nicht in der Darstellung der eigenen Position.   "Die spinnen, die Wessis!" Christian Pfeiffer nimmt die Differenzen zwischen Widerstand einerseits und bewusster Systemtreue andererseits nicht zur Kenntnis: die kleinen Verweigerungen im Alltag; die mitunter winzigen, wenig spektakulären Versuche, politische Vorgaben zu unterlaufen; die häufig unmerklichen Schwankungen zwischen Anpassung und Sich-Beugen: all diese konkreten widersprüchlichen Lebensvollzüge, die halfen, lebbare Spielräume in der DDR zu schaffen und zu sichern. Diese alltäglichen Selbstverständlichkeiten, die das Leben der DDR ebenso verlängerten, wie sie es letztlich zum Erliegen brachten. Diese Leerstelle in Pfeiffers Urteilsverkündung über die Erziehung in der DDR verhindert deren Wahrnehmung als Diagnose über ihre systemimmanenten Strukturen. Vielmehr nimmt sie ein Großteil des ostdeutschen Publikums als ein vernichtendes Urteil über jedwede Lebensaktivität im Kontext von Erziehung wahr. Und das kann in dieser Optik nichts anderes heißen als: Nicht die erzieherischen Institutionen des Staates DDR und das strukturelle Anpassungsverhalten in ihnen erscheinen als die von Pfeiffer erbarmungslos kritisierten, sondern das Leben mit und für die (eigenen) Kinder in der DDR werden zur geschichtlichen Sondermüllentsorgung freigegeben. Welche Eltern und Großeltern lassen so etwas auf sich sitzen? Pfeiffer treibt nicht so sehr das (ehemalige) Erziehungspersonal in die Rechtfertigungsecke, als vielmehr die pädagogischen Laien aus der Diskussion. Sie wenden sich ab, sofern sie es nicht ohnehin schon getan haben: "Die spinnen eben, die Wessis!" Gegen den autoritären DDR-Erziehungsstil erhebt Christian Pfeiffer das Ideal einer demokratischen, antiautoritären Erziehung zur Kontrastfolie. Seine Ausführungen dazu bleiben allerdings merkwürdig unkonkret. Sie zeigen Schwäche gegen die starke Generalthese von der autoritären Erziehung in der DDR. Sicher, gibt Pfeiffer zu, habe es Ausnahmen gegeben, aber diese fanden in "sozialen Nischen und intakte(n) Familien" statt. "Natürlich haben viele Eltern und Großeltern versucht, den institutionellen Mangel an persönlicher Zuwendung auszugleichen." Auch gab es "Kindergärtnerinnen und Lehrer, die den Anpassungsdruck gemildert und die Feindbild-Erziehung nicht mitgemacht haben." Die Regel des autoritären Regimes etablierte auf ihrer Gegenseite den "dissidentären Ausnahmezustand". Diese Vorstellung folgt einem Wahrnehmungsmuster, das nicht in der Lage ist, menschliches Handeln unterhalb des Niveaus großer politischer Kämpfe, jenseits großer sozialer Subjekte und außerhalb statistischer Datenmengen zu denken. Auf die naheliegende Idee, daß ostdeutsche Mütter und Väter, Großeltern, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer zunächst einmal ihre Kinder geliebt und angenommen haben, wobei ihnen "das System" durchschnittlich genauso gleichgültig gewesen sein dürfte, wie anderen zu anderen Zeiten an anderen Orten auch, kommt Christian Pfeiffer offenbar nicht. Hier stellt sich die eigentlich drängende Frage, die Pfeiffer außen vor lässt: Wie ist zu erklären, dass Menschen indem sie ihre Kinder lieben, sie groß ziehen, ihnen Aufmerksamkeit und Vertrauen schenken, meist unabsichtlich daran mitarbeiten, gegebene autoritäre Rahmenbedingungen zu verinnerlichen? Welche Schlussfolgerungen können aus der Analyse menschlichen Handelns gezogen werden, wenn vorauszusetzen ist, dass Menschen Disziplinarmaßnahmen an sich vollstrecken, deren Zielscheibe sie selbst oder ihre Kinder darstellen? Wie könnte, eine solche Sicht auf die Dinge unterstellt, ein Üben in demokratischer Erziehung aussehen? Ohne Anreize zur Selbst-Erziehung wohl kaum.   "Heile Familienwelt"?! In Pfeiffers Plädoyer für eine demokratische Erziehungsvorstellung erhält die "intakte Familie" einen hohen Wert zugesprochen. Wie die auszusehen hat, ist explizit nicht zu erfahren. Implizit hingegen schon. Nach seiner Darstellung führte nicht nur die dem politischen System innewohnende Persönlichkeitsverletzung die emotionale Verwahrlosung der DDR-Kinder herbei. Vielmehr wurde diese noch durch die "in DDR-Familien besonders häufig (auftretenden) Trennungs- und Scheidungskonflikte" verschärft. Es mangelte an emotionaler Zuwendung durch feste Bezugspersonen. Die statistische Feststellung der Tatsache des (möglicherweise gehäuften) Auftretens von Trennungs- und Scheidungskonflikten bürgt nicht für die Wahrheit der Aussage der vermeintlich daraus resultierenden emotionalen Verwahrlosung. Erst konkrete Untersuchungen über das Wie des Verarbeitens solcher Konflikte erlaubten solche Rückschlüsse. Zudem kann der Gebrauch der Worthülse von der "intakten Familie" einen Beigeschmack von patriarchalischer Wahrheit nicht verleugnen. Beim lieblosen Zusammenleben etwa eines Elternpaares, das * mit Rücksicht auf die Kinder * ein Ensemble fester Bezugspersonen nach Erlöschen der Liebe weiterhin garantiert * handelt es sich hierbei nicht um "emotionale Verwahrlosung"? Und warum sollten andere Lebensformen, die jenseits des Horizonts "intakter Familie" existieren, nicht auch emotionale Zuwendung und feste Bezugspersonen gewähren können? Institutionen scheinen mir per Definition menschliche Erfindungen zu sein, denen die Eigenschaft fehlt, persönliche Zuwendung zu spenden. Eine DDR-Spezifik kann ich hierin nicht erkennen. Wer die Fähigkeit menschliche Wärme zu geben, ausschließlich als Kompensationsleistung für institutionelle und systemische Defizite thematisiert, spricht den Menschen ab, menschliche Wärme verschenken zu können. Zweifelsfrei kann es Situationen geben, in denen die Liebe zu Kindern zur System- oder Institutionenkritik "zwingt". Doch diese Konstellationen setzen Menschen voraus, die in der Lage sind, über ihre emotionalen Zuwendungen frei zu entscheiden. Christian Pfeiffer sollte zumindest versuchen, auch von ostdeutschen Menschen so zu denken. Bei allem gesellschaftlichen Zwang, wer oder was soll Menschen letztlich hindern, ihre Kinder zu lieben? Auch Menschen, die ihre Kinder lieben, auch Menschen die ihre Kinder antiautoritär und/oder demokratisch erzogen haben, sind vor der unliebsamen Überraschung nicht sicher, eines Tages einem gewaltbereiten jungen Menschen gegenüberzustehen. Statistische Wahrscheinlichkeiten und ihre Interpretationen haben dann Wert, wenn sie sich auf die widrigen und niedrigen Ebenen konkreter Widersprüchlichkeit menschlichen Lebens einlassen, und nicht auf der Ebene von Stereotypen verharren. Die Bereitschaft dazu, vermisse ich (bisher) bei Christian Pfeiffer. Er hat Recht: Wir könnten noch viel voneinander lernen. Doch wir müssen es auch wollen.   Dr. Petra Caysa lehrt am Institut für Philosophie der Universität Leipzig. In Berlin arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ausbildungsinstitut Lebenskunde, das der Humanistische Verband für sein humanistisches Schulfach ins Leben gerufen hat. Sie ist stellvertretende Präsidentin der Humanistischen Akademie in Berlin.