Grass ist keine Kultur, sondern Politik. Natürlich quellen die Feuilletons über. Jeder Idiot muss jetzt seinen Senf dazugeben, ob Grass' Bekenntnis, nicht nur bei den lieben, kleinen unschuldigen Flakhelferlein gewesen zu sein, sondern bei der Waffen-SS, zu spät, zu früh oder was auch immer gekommen ist. "Geteiltes Echo" nennt man das. Die üblichen Verdächtigen, die ihr Wasser wie gewohnt nicht halten können, sind Ralph Giordano (nur echt mit dem Seidenschal), Michael Jürgs (Gern hab' ich den Grass geküsst), Hellmuth Karasek (nur echt in der Uralt-Rechtschreibung des Vornamens). Wenn es um nichts geht, entsteht sehr schnell eine "rabiate Debattierwut".Wo bleiben aber der Dampfplauderer Friedrich Schorlemmer und Hans-Joachim Maaz (Wir sind alle betroffen!) u.v.a.m.? Was sagt Paris Hilton zum Fall Grass?
Journalismus bedeutet in Deutschland, dass man alle möglichen Leute fragt, was die denn so denken. "Alle möglichen" bedeutet, dass jemand um so wichtiger ist, je mehr er oder sie ein Amt hat, also der Insasse einer öffentlich-rechtlichen Anstalt ist, mit Anspruch auf Rundum-Vollversorgung und 13. Monatsgehalt, und/oder oft in der Glotze auftaucht. Die Krönung der Fernsehkultur ist, wenn, mit Verlaub, ein Arschgesicht ein anderes interviewt.
Im Butt findet man übrigens die passende Überschrift zum Thema: "Von der Last böser Zeit". Worum geht es eigentlich? Sehr hübsch und mit großer Pose formuliert Hugo Loetscher in der der NZZ: "Nicht allerdings die Tatsache, dass ein Siebzehnjähriger der Verführung erlag, macht das Skandalon. Das wusste irgendwie wohl auch Grass selbst, der seine Verwirrung in einer grossen Erzählung seines Lebens halb verschämt, halb erstaunt abzulegen gedachte - in der Brunnentiefe des Imperfekts von Erinnerungen. Vielmehr prallt das während Jahrzehnten gehegte Versäumnis öffentlich gemachten Eingedenkens jetzt auf das Denkmal des Moralisten."
Da habe wir den Salat bzw. das Dilemma der deutschen Leitkkultur: Ein Literat soll gute Bücher schreiben, aber nicht den Moralapostel geben. Ein Schriftsteller kann als Mensch ein arger Wicht und ekelhaft sein - das wird ihm verziehen, wenn das Werk groß ist. Tom Wolfe, sagte dazu treffend: "Schriftsteller haben oft den Charme eines Mehlwurms. Sie sehen aber mehr als andere Leute."
Wieso sollte jemand, der Bücher schreibt, die viele Leute mit Genuss lesen, Ahnung von Moral haben? Grass' Gestammel, warum er seine Mitgliedschaft in der SS verschwiegen hat, gleicht doch genau dem Gefasel, das man von ehemaligen Stasi-Spitzeln und anderen typisch deutschen Charaktermasken hört, wenn sie enttarnt werden. Ob er 17 Jahre alt war, spielt keine Rolle: Auch ein junger Erwachsener weiß, was er tut und warum. Wenn nicht, könnte er jemanden fragen, der älter ist.
Christian Brommarius schreibt in der Berliner Zeitung sehr hübsch: "Genauer betrachtet, erscheinen Leben und Wirken Günter Grass' als verblüffendes Spiegelbild des französischen Professors Sfax. Mit dieser Figur hat der englische Schriftsteller Gilbert Adair vor wenigen Jahren dem belgischen Kollaborateur und Literaturtheoretiker Paul de Man im Roman 'Der Tod des Autors' ein Denkmal gesetzt. Als junger Mann hatte Sfax - nicht aus Überzeugung, allein aus Ehrgeiz - im Paris der 40er Jahre antisemitische Artikel veröffentlicht, eine Jugendsünde und Lebensschande, der Sfax nach seinem Avancement zum Professor in den USA über seine Literaturtheorie zu entkommen versucht. Als Dekonstruktivist behauptet er, literarische Texte entstünden aus sich selbst heraus, also ohne Verantwortung des Autors."
Mangelnde Verantwortung - nur das mache ich Grass zum Vorwurf. Wenn jemand vor langer Zeit kompletten Blödsinn gedacht, geredet und danach gehandelt hat, kann das ein Irrtum gewesen sein, ein fataler politischer dazu. Ich habe vor 30 Jahren Mao bewundert - die Gründe kann ich nachvollziehen, aber auch, warum die seit rund einem Vierteljahrhundert entfallen sind. Auch der Schriftsteller Franz Fühmann, den ich sehr garn lese, war in der Reiter-SA - und wurde später in der DDR mit dem Nationalpreis gefeiert. Aber wer irrte, hat die Pflicht, das zu überdenken und den Mitmenschn, die es hören wollen, zu erklären, wie es dazu kam. Wer das Maul hält, ist einfach ein Feigling - und verantwortungslos. "Ich war's nicht - Adolf Hitler ist es gewesen" - Grass ist ein Deutscher, wie er im Buche steht.
Einen der besten Artikel zum Thema hat Ulrich W. Sahm geschrieben:"'Wie antisemitisch ist Günter Grass?' fragt Ginster. 1971 schrieb Grass gemäß dem antisemitischen Prinzip, dass die Juden an ihrem Unglück selber schuld seien: 'So hat Israel durch die schleichende Annexion der besetzten Gebiete den arabischen Staaten einen Vorwand für deren Angriff geliefert.' Präsident Ahmadinidschad will seit vergangenem Herbst Israel von der Landkarte löschen. Der Israelfreund Günter Grass kam jedoch dem iranischen Präsidenten bei Spiegel-Online schon im Oktober 2001 zuvor: 'Israel muss aber nicht nur die besetzten Gebiete räumen. Auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und seine israelische Besiedelung ist eine kriminelle Handlung. Das muss nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht werden.'"
Bei Blut und Boden hört bei einem ehemaligen SS-Mitglied natürlich der Spaß auf. |