Während das Spiel Deutschland gegen Argentinien lief und es noch eins zu null für die Gauchos stand, fuhr ich mit meinem Rad vom Grunewald über den Kurfürstendamm nach Kreuzberg. Man kann die Dinge von zwei Seiten sehen: Die Deutschen haben sich "südländische" Sitten angeeignet und können - was nicht selbstverständlich ist - öffentlich eine Party feiern. Autokorsos mit nerviger Huperei des Opel-Manta-Milieus - leider von den Türken abgeguckt. Undsoweiter. Vor den 68ern war es undenkbar, auf "der Straße" herumzutoben. Das ist also gut.

Schlecht ist, dass der Deutsche an sich ohnehin zum Rudelverhalten neigt. Und das ist mir zuwider. Rein völkerkundlich gesehen kann man das Treiben, in Gruppen kostümiert herumzusitzen und kollektiv Urschreie auszustoßen, natürlich irgendwie interessant finden. Ich fand es lustig, dass ich in Halensee akustisch mitbekam, dass das Tor zum Ausgleich gefallen war. Es jubilierte und grölte aus allen Fenster und Türen.

Wenn der Deutsche sich zusammenrottet, setzt, im Gegensatz zu den Angelsachsen, auch das Gehirn aus. Wie kann man sonst erklären, dass Focus online unter Journalismus offenbar versteht, jedes Arschgesicht, das sich Politiker nennt, zu einem Statement aufzufordern und den kollektiven Quatsch auch noch auf das surfende Publikum loslässt?

Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser werden überrascht sein, wenn ich ihnen jetzt, ganz gegen ihre Erwartung, eine frohe Botschaft übermittle. Ich habe noch nie so viele Einwanderer gesehen, die sich mit ihrem neuen Heimatland identifizieren. Unter meinem Balkon fuhren zahllose Autos mit jungen Leuten vorbei, deren Eltern sicher nicht von hier stammten und die sowohl die türkische als auch die deutsche Fahne schwenkten. Mal abgesehen, dass Nationalismus natürlich eine geistige Seuche ist: Ich bin Kosmopolit und man sollte entweder gar keine oder so viel Fahnen wie möglich schwenken, wenn es denn sein muss. Es könnte also sein, dass sich Old Germany - o Wunder! - positiv verändert hat.

BURKS ONLINE 39.06.2006
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