HORATIER 1 Livius im KnastVon Burkhard Schröder
Gestern war ich - in angenehmer weiblicher Begleitung - im Theater. "Karten sind nur im Vorverkauf und mit persönlicher Anmeldung erhältlich, spätestens sieben Tage vor der Vorstellung," hieß es. Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser merken auf: irgendetwas ist ungewöhnlich. Jawohl: Das Theater war im Knast, im der Justizvollzugsanstalt Tegel. Alle Schauspieler waren Gefangene, zu einem erheblichen Teil Langzeitinsassen. Man führte Horatier 1 von Heiner Müller auf. Der Plot ist aber schon 2000 Jahre alt und stammt von Livius.
Ich sage es gleich zu Anfang: Das Stück war außergewöhnlich, beeindruckend, ja bewegend in seiner Authentizität, die sich nicht zuletzt durch die "Schauspieler" einstellt. Eine zwei Jahrtausende alte Geschichte, die heute genau so aktuell ist wie vermutlich damals. Große Kunst und sehr zu empfehlen, natürlich auch, weil Heiner Müller eine Klasse für sich ist und für mich gleich nach Brecht kommt. Und danach kommt eine Weile nichts. Das Kunstprojekt Aufbruch hat es durchgesetzt, dass es sich die "Schauspieler" selbst aus den Gefangenen aussuchen konnte, die sich bewarben. Das Publikum bestand mindestens zur Hälfte aus Gefangenen, die erst in den dunklen Raum durften, als das "externe" Publikum schon Platz genommen hatte.
Die Geschichte: "Rom und Alba sind Bruderstädte, die in einem Kampf um Herrschaft verstritten sind. Beide Städte werden von einem gemeinsamen Feind, den Etruskern, bedroht. Um ihre Heere für den Kampf gegen die Etrusker zu schonen, beschließen sie einen Stellvertreterkampf. Mann gegen Mann. Horatier gegen Kuriatier.
Der siegende Horatier wird nach seiner Rückkehr zum Mörder an seiner den toten Kuriatier betrauernden Schwester. Wie kann der eine unteilbare Mann gleichzeitig als Held geehrt und als Mörder verurteilt werden? Was ist Verdienst, was ist Verbrechen? Die Geschichte einer Rechtsfindung und Rechtssprechung. "Viele Männer sind in einem Mann."
(Heiner Müller)"
Die Gefangenen haben zum Teil eigene Texte eingebaut. Der letzte Teil enthält funkelnden und auch zynischen Humor: Jeder, natürlich auch das Publikum, versteht auch die kleinste Anspielung. "Heil Coca Cola", ruft einer der Horatier. Heiner Müller wär entzückt gewesen.
Eine Szene ist mir besonders nahe gegangen: Der Horatier hat seine Schwester ermordet, und einer von seinen Leuten nimmt den Leichnam in die Arme und stimmt ein Klagelied an. Der Schauspieler ist offensichtlich Serbe, und das Lied, ebenfalls in Serbisch gesungen, geht einem durch Mark und Bein, obwohl man kein Wort versteht. Und jeder der Gefangenen im Publikum, die vorher noch nervös gewitzelt hatten, war stumm und wie erstarrt. Für viele von ihnen war es wohl die erste Theateraufführung überhaupt. Wofür sitzt der "Schauspieler" und Klagende ein? Mord? Vergewaltigung? Kriegsverbrechen? Ich habe nach der Vorstallung nicht gefagt. Ein anderer sagte beiläufig, er selbst wäre schon 15 Jahre im Gefängnis.
Übrigens weilte auch die Justizsenatorin vor Ort. Sie ging nach dem Applaus und sichtlich beeidnruckt auf die Bühne und beglückwünschte alle. Ob das auch bedeutet, dass das Projekt weiterfinanziert wird, weiß niemand.
Weitere Vorstellungen:
2./ 4./ 9./ 11./ 16./ 18. und 23. November 2005 um 18.30 Uhr, letzter Einlass immer um 18 Uhr. Hingehen! Ansehen! Geld spenden! Weiterempfehlen! Das Bild unten zeigt den "Schwur der Horatier" von Jacques-Louis David, Louvre. |