Und was soll ich jetzt wählen?

Von Burkhard Schröder

Ich wende mich heute an Sie, liebe Unentschlossinnen und Unentschlossenen, um gemeinsam darüber nachzudenken, was wir wählen wollen. Wir Internet- und Technik-Affinen haben dazu den Wahl-O-Maten. 30 Fragen - und die Software spuckt aus, je nach Antwort, welche Partei und welches Programm einem nahe steht.

Ich mache aus meinem Herzen übrigens keine Mördergrube und bekenne, immer die Guten gewählt zu haben. Das waren meistens die Grünen: Atomkraft, Immigranten-Politik, Drogenpolitik, innere Sicherheit. Aber so einfach ist es nicht mehr. Hier in Kreuzberg ist es selbstverständlich, dass man mit der Erststimme Ströbele wählt: Der gehört unstrittig zu den Guten, ist unabhängig und stimmt im Zweifel auch gegen seine eigene Partei, hat kein Auto, ist so beliebt, dass ihm sogar das geklaute Fahrrad auf verschlungenen Wegen wieder zugeführt wird, will das Hanf freigeben (Ja! Gut so! Obwohl ich Nichtraucher bin!) und ist vor allem Popkultur. Das heißt: Er kann sagen, was er will: Es ist alles ok. Im Blog der Tagesschau wird Ströbele DeubedgAdGidB genannt - "der erste und bisher einzige direkt gewählte Abgeordnete der Grünen im deutschen Bundestag".

Aber was mache ich mit meine Zweitstimme, auf die es ankommt? Gehen wir also zum Wahl-O-Maten.

Frage: Generelles Tempolimit auf Autobahnen? Ich bin begeisterter Autofahrer, obwohl ich gar kein Auto besitze, aber sehr gern mit unserem schnellen und funkelnagelneuem Familienauto herumflitze. Freie Fahrt für freie BürgerInnen! 200 km sind Spitze! Also die Antwort: kein Tempolimit.

Der Kündigungsschutz soll gelockert werden? Schwere Frage. Als Erzlinker sage ich spontan und emotional "nein". Aber als eingefleischter Feind von Papierkram, Bürokratie, Dienstwegen, Ausführungsverordnungen und Durchführungsbestimmungen bin ich dafür, alles zu lockern. Also "neutral".

Am geplanten Ausstieg aus der Atomenergie soll festgehalten werden? Ja, aber sicher. Wozu war ich denn sonst in Brokdorf und habe mich von Wasserwerfern vollspritzen lassen?

Benzinsteuern senken? Nein. Wer Auto fährt, weiß, was er oder sie tut. Also soll man auch dafür blechen. Verantwortung. Verursacherprinzip. Blabla. Stimme also nicht zu.

Die Türkei soll vollwertiges Mitglied der Europäischen Union werden können. Ja. Allein schon, um Wo-beginnt-menschliches-Leben-Robert Koch zu ärgern.

Die Mehrwertsteuer muss erhöht werden? Keine Ahnung bzw. ist mir wurscht. Also neutral.

Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns? Ja. Das ist zwar nur symbolisch und führt zu nichts, macht aber im Klassenkampf einen guten Eindruck. Hoch das Proletariat! Nieder mit den Ausbeutern!

Erhöhung der Steuern für Spitzenverdiener/innen? Aber immer! Lang lebe Robin Hood! Den Reichen nehmen, den Armen geben! Wir da unten, die da oben! Wer hat, dem soll genommen werden, steht in der für Verehrer höherer Wesen Heiligen Schrift. Oder so ähnlich. Ich berufe mich darauf, ohne das Zitat verifiziert zu haben.

Das Dosenpfand soll abgeschafft werden? Nein. Trittin hat Recht. Und Pfand für Dosen ist richtig, gut, schön und wahr.

Alle Bürger/innen sollen sich in einer gesetzlichen Krankenkasse versichern müssen? Schwere Frage, weil ich nicht weiß, was gemeint ist. Was ist, wenn sie nicht können, weil sie kein Geld für eine Krankenversicherung haben? Werden sie dann verhaftet und eingesperrt? Oder meint die Frage, auch die Reichen, die ohnehin privat versichert sind, sollen auch in die Gesetzliche einzahlen? Oder muss der Staat einspringen, wenn Arme nicht mehr krankenversichert sind? Also bin ich vorsichtshalber dafür.

Im Ausland lebende Deutsche sollen in Deutschland Steuern zahlen müssen? Sehr interessante Frage. Ich bin dagegen. Oder will jemand ernsthaft fordern, die in Deutschland lebenden Türken sollten in der Türkei ihre Steuern und in die Rentenversicherung einzahlen? Dann wären wir schon längst Pleite. Und umgekehrt muss das auch gelten.

Die europäischen Agrarsubventionen müssen deutlich gesenkt werden? Aber sicher. Subventionen sollten ganz abgeschafft werden. Wir leben im Kapitalismus, und das sollte man auch durchziehen. Damit man aus den katastrophalen Folgen pädagogisch wertvolle Schlussfolgerungen ziehen kann.

Die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik soll ausgebaut werden? Aber gegen wen denn? Das ist heimtückisch. "Verteidigungspolitik" heißt im Neusprech, die Armee soll auch gegen die eigenen Bürger vorgehen und dafür besser ausgerüstet werden und/oder in andere Ländern einmarschieren, wie die Bundeswehr am Hindukusch. Also grober Unfug. Leider muss ich aber dafür sein, weil das Gegenteil bedeutete, dass jeder Nationalstaat ohne Kontrolle der anderen aufrüstet. "Gemeinsam" heißt letztlich auch, dass wir kontrollieren können, ob die Franzosen jemandem ihre Atombomben auf den Kopf werfen.

Die deutsche Steinkohle soll weiter subventioniert werden? Nein. Siehe Landwirtschaft.

Die Bundeswehr soll für Aufgaben der inneren Sicherheit verstärkt eingesetzt werden dürfen? Nein, siehe Verteidigungspolitik.

Abgeordnete sollen verpflichtet werden, alle ihre Nebeneinkünfte zu veröffentlichen? Ja, wie in den USA. Ich will wissen, wer durch wen korrumpiert wird. (Wer ist eigentlich dagegen - außer der FDP?)

Jedes Kind muss vor der Einschulung einen Sprachtest bestehen? Ja. Warum nicht? Wer die Sprache des Landes, in dem er oder sie lebt, nicht beherrscht, ist im Nachteil und sollte in der Schule gefördert werden. Dazu ist sie da. Soweit alles klar, liebe Gutmenschen, Multikultis und andere Lichterkettenträger?

Das Erststudium soll gebührenfrei sein? Ja, damit auch die Arbeiterklasse die Chance hat, ihre Kinder auszubilden. Bildungspolitik soll ausschließlich Angelegenheit der Bundesländer sein? Nein. Ich will nicht, dass die Bayern ihre Kinder eigenständig ideologisch mit der deutschen Leitkultur indoktrinieren oder gar die Sachsen den sächsischen Genitiv einführen.

BAföG sollte unabhängig vom Einkommen der Eltern gezahlt werden? Nein. Wer reiche Eltern hat, sollte nicht noch Staatsknete bekommen. Doofe Frage.

Der Staat soll im ersten Jahr der Elternzeit ("Erziehungsurlaub") einen Lohnersatz zahlen? Spontan wäre ich dagegen, weil ich gern die Arbeitsgeber zuerst schröpfen möchte und nicht den Staat, den ich ja selbst finanziere. Aber man darf kein Kleinbourgeoisie-Bashing betreiben - die brauchen die Revoluzzer als Bündnispartner. Wieso kann man nicht differenzieren? Nur ab einer bestimmten Größe des Unternehmens zahlt das den Erziehungsurlaub selbst, Kleinbetriebe überlassen diese Pflicht dem Staat. Also neutral.

Frauen müssen auch ohne vorherige Beratung bis zum dritten Monat straffrei abtreiben dürfen? Frauen sollen selbst über ihren Körper bestimmen. Nieder mit den Benedikt-Groupies! Also uneingeschränkt dafür.

Von allen Straftätern/innen sollen die DNA-Daten ("genetischer Fingerabdruck") zentral erfasst werden? Nein. Gegen Überwachung, für die Bürgerrechte. Meine Attitude spricht dagegen. Ohne zu überlegen: Nein.

Die Wehrpflicht soll abgeschafft werden? Schwere Frage. Wer nicht zur Waffe greifen will, kann den Kriegsdienst verweigern. So steht es im Grundgesetz - und es heißt nicht "Wehr"dienst, sondern "Kriegs"dienst. Und Rekruten und Wehrpflichtige neigen weniger dazu, auf ihre eigenen Landsleute zu schießen als Berufssoldaten und andere Killer. Ich kann mich nicht entscheiden. Also neutral.

Mehr Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen? Natürlich nicht! Gesetzliche Gleichstellung der "Homo-Ehe"? Ist mir egal. Aber um die Rechten zu ärgern: Stimme zu.

Bei Bundestagswahlen: Wählen ab 16 Jahren! Nein. Populistische Frage. Biometrische Daten (z.B. Fingerabdruck) sollen in den Personalausweis aufgenommen werden? Natürlich nicht. Gegen Überwachung usw.

Haschisch soll legalisiert werden? Natürlich. Darüber diskutiere ich schon deshalb nicht, weil alle Argumente seit den siebziger Jahren immer die Gleichen sind. Ich würde auch andere psychotrophe Substanzen legalisieren. Der Staat hat kein Recht, dem mündigen Bürger vorzuschreiben, mit was der sich volldröhnt. Wo kämen wir denn da hin?!

Volksentscheide auch auf Bundesebene? Nein. Wahlen sind Volksentscheide. Das wäre ein weißer Schimmel und förderte den Populismus. (Wer fordert das? Die Grünen? Und wozu?)

Und nun das Ergebnis. Hilfe! Ich bin Sozialdemokrat? Dabei habe ich die - außer 1972 - doch noch nie gewählt! Das ist ja grauenvoll. Und an zweiter Stelle die Linkspartei? Gut, die fordern alles und machen dann nichts. Aber das wurmt mich schon. PDS, igitt.

Richtig froh bin ich, dass die FDP so schlecht abschneidet, denn für die Gutmenschen und andere Linke bin ich viel zu liberal. Aber gute, schöne und wahre Fragen tauchen im Wahl-O-Maten ohnehin nicht auf. Sind Sie dafür, die Kirchensteuer und den Religionsunterricht in den Schulen abzuschaffen? Aber immer. Auch Neonazis sollten wie jeder andere überall demonstrieren können? Natürlich. Sollte der Jugendschutz abgeschafft werden? Selbstverständlich, wie in anderen europäischen Staaten auch. Patente auf Software? Nein, und Linux zwangsweise für alle und in die Schulen. Und wenn ich noch mehr überlegte, fielen mir sicher noch andere Fragen ein, die mich als Vertreter einer politisch marginalisierten und deshalb irrelevanten Randgruppe outen würden.

Ceterum censeo: Man sollte vielleicht Parteien wählen, deren Wahlspots von den Bedenkenträgern als "jugendgefährdend" eingestuft werden. Das rät Ihnen Ihre politische Randgruppe. Ich habe mich übrigens noch immer nicht entschieden.