IMPRESSIONEN AUS DER VERGANGENHEIT Atlantis am MississippiVon Burkhard Schröder
Heute habe ich in eine abgelegene Ecke meines Bücherregals gegriffen, dort liegt eine kleine, dicke, grüne Kladde. "1979" steht darauf. Auf den ersten Seiten liest man: 22. September. Washington D.C. Capitol im Abendlicht. Greyhound.
Drei Stunden vor New Orleans sind noch die Folgen des Hurrikans (1979!) zu sehen: Umgestürzte Bäume und zerstörte Häuser. Unendlich lange Brücke über die Swamps of Louisiana. Eine Stadt: Mobile. Die Gegend heiße Atchafalaya Basin, sagt der Busfahrer.
Nach 33 Stunden Ankunft in New Orleans. YMCA. Ziemlich mieses Loch. Ein australischer Globetrotter erkundet mit uns das French Quarter. Kolonialatmosphäre mit französischen Häusern. Dixieland-Kneipe: Nepp-Lokal, 3.75 Dollar für ein Bier, aber lustig. Viele wunderschöne Frauen.
Hafenrundfahrt. Stahlwerke auf Pfählen. Man sagt uns, das French Quarter solle kriminell sein, sechs Tote pro Woche. Wir sollten vorsichtig sein. Sehr schwarzer Jazz in der Preservation Hall: die Sweet Emma's Band. Unglaublicher Sound. Die Pianistin sitzt im Rollstuhl und klimpert einhändig auf dem Piano. Angeblich spielen die schon seit den 20er Jahren zusammen. Es ist zum Heulen schön. "Thank you, music lovers" sagt der Bandleader zum Schluss mit zittriger Stimme. Er ist mindestens schon 80, aber der Musik hört man das nicht an. Man schwebt wie auf einem weichen Teppich von Noten hinaus.
Auf der Bourbon Street Striptease. Alles voller Touristen. Ein sympathischer Ami gibt uns Infos über Santa Fe. Dort werden wir in einer Woche sein. Banjospieler mit Kautabak. Weißer Jazz hört sich seelenlos an. Auf einem Platz sitzt ein Schachspieler, der angeblich Weltmeister sein will. Ich gebe vier Dollar aus, um ein Remis gegen ihn zu erreichen. Wanzen im Zimmer.
23. September. Ein nicht ganz koscherer Park. Abenddämmerung über dem Fluss. Hier lungern ein paar finstere Gestalten herum. Ein interessantes Gespräch, fast zwei Stunden, mit einem schwarzen Banker in feinem Zwirn, der uns anquatscht, als er hört, dass wir Deutsch miteinander reden. Ein abgerissener Schwarzer mit einer Eisenstange umkreist unsere Parkbank, und der Banker dreht sich immer so, dass er dem nie den Rücken zukehrt. Ich mag das: Als deutscher Globetrotter mitten in New Orleans mit einem schwarzen Banker (in dunklem Anzug und Krawatte) über Karl Marx zu diskutieren.
24. September. Spaziergang am Mississippi. Eine deutsche Rentnergruppe. 5.000 Mark für drei Wochen USA, um von Stadt zu Stadt zu reisen. Die freuen sich wieder auf Germany. Total verblödet. Wir verlassen New Orleans in Richtung Houston."
Ich habe noch eine alte, fast vergilbte Postkarte, die ich damals an meine Wohngemeinschaft in Berlin geschrieben habe. Hach, wie war das schön: United States, Mexico, Belize, Guatemala, Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien, Brasilien, Guyana, Trinidad, Barbados... Ich stelle mir vor, wie ich in dreißig Jahren die Kladde und die Postkarte mit zitternden Fingern greifen und murmeln werde: New Orleans, in den Fluten versunken wie Atlantis. "I've seen things you people wouldn't believe.... All those moments will be lost in time, like tears in rain." ------------------------------------------------------------------------------------ BURKS ONLINE 05.09.2005 Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des BurksVEB.
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