REALITÄT IN DEUTSCHLAND Wir lieben unser Land!Von Jürgen Wolther
Auf Telepolis erschien am 26.08.2005 der Artikel "Kein Punk im Funk", auf spiggel.de am 29.08. "Sexuelle Handlungen wechselweise aneinander." Thema: Der Wahlwerbespot der APPD wurde vom WDR abgelehnt. Der Artikel erschien als Kommentar im Telepolis-Forum.
Das meiste, was gezeigt wird, ist wirklich Realität, und zwar nicht
in der Punkszene, sondern eher bei den Hardcorealkis ohne Perspektive
und Hoffnung z.B. hier in meinem kleinen Hochhausghetto. Das sind aber keine Punks, sondern ehemalige, "ganz normale" Bürger, die meist bis vor ihrer Arbeitslosigkeit Familie hatten. Klar ist es ziemlich widerlich zu sehen, wie es mit Menschen bergab geht. Insofern hat der Spot eher aufklärerischen Charakter.
Hallo Herr WDR-Intendant. Kommen Sie doch heute Abend einfach mal
vorbei. Adresse bekommen Sie auf Anfrage hier im Thread per E-Mail.
Wir können dann heute Abend oder so mal einen Rundgang durch "mein
Viertel" machen. Am besten besuchen wir den ewig breiten Peter, bei
dem (er bekommt nix mehr mit) läuft nahezu jeden Abend eine zünftige
Sauforgie mit allem was dröhnt, billig ist und/oder im Supermarkt am
Tage zusammengeklaut werden konnte. Da laufen auch immer ein paar
sichtlich vom Leben gezeichnete "Schneggen" rum, die nach genug
Alkkonsum gern die Beine breit machen, oder es halt nicht mehr
merken, wenn man auf ihnen rumjuckelt. Dabei entsteht dann auch ab
und zu mal Nachwuchs. Der ist zwar Alkgeschädigt, und meist ist auch
der leibliche Vater nicht ausfindig zu machen. Aber hey, Teutschland braucht mehr Kinder!
Oder, Herr Intendant, mögen Sie es gewälttätiger? Da gibt es in der
Nähe ein U-Bahnstation mit einem Marktplatz. Dort sitzen von
Nachmittags bis Abend Typen, deren Gesichter man teils nicht mehr
erkennt. Da ist z.B Frank mit dem Triefauge. Auf das Auge wurde
dermassen oft gehauen, daß es inzwischen seine Orginalform verloren
hat. Sein Gesicht ist nur noch ein Klumpen, weil er es im Suff einfach nicht auf die Reihe bekommt mal niemanden (meist "Kanaggen") der kräftiger ist als er anzupöbeln. Frank ist ein Monster von einem Kerl. Früher war Frank Werftarbeiter in Rostock. Die grösste Wut kann man in seinen Augen sehen, wenn er davon Erzählt, daß er zu jenen gehört hat, die damals (Schiss vor den Vopos in der Hose inklusive, wie er erzählt) bei den Montagsdemos "Wir sind das Volk" gebrüllt haben. Heute ist er langzeitarbeitslos, seine Frau ist mit den Kindern zu einem (wie er sagt) "geschniegelten Arsch" geflüchtet. Seit zwei Jahren säuft Frank nun hardcore.
Ja, Herr Intendant, gehen wir zum Bahnhof. Sicher bekommen Sie eine jener Schlägereien zu sehen, die eigentlich keinen Grund haben, ausser dass jemand im besoffenen Schädel etwas falsch verstanden hat. Das wird meist richtig blutig und ab und zu (wie vor 4 Monaten) bleibt auch mal jemand liegen.
Drogen, Herr Intendant? Neeeeiiin, nicht lasche Kiffer wie meine
Kollegen, richtig harte Drogenszene! Kein Problem! Da gehen wir
einfach ins Nachbarhaus. Da sitzen jene, die sich alles in die Vene
jagen, was nach Stoff aussieht. Die zweite Hälfte des Monats (die
ohne Geld) wird meist tagsüber klauen gegangen. Taschendiebstahl im
nahen Einkaufszentrum. Da hier im Viertel 80% Langzeitarbeitslose und
20% Sklavenarbeiter mit Minimallöhnen sitzen, dauert es zwar seine
Zeit, bis man das Geld für den Stoff zusammenhat (man beklaut
eigentlich "Brüder und Schwestern im Chaos") aber irgendwas kommt
schon rüber. Und dann hängen sie da, in der total versifften Bude
ohne Möbel und töten sich auf Raten. Zwischendurch kommt immermal
wieder ein schmieriger Dealer vorbei und bringt 'ne Ladung Tod für
die, die ihn sich leisten können.
Da sitzt dann z.B. Kathrin, vor 1-2 Jahren war sie ein wirklich
hübsches Mädel. Inzwischen sieht sie aus, als wäre sie mehrmals vom
Bus überrollt worden. Kein Wunder. Ihr erster Freund in der
Arbeitslosigkeit wollte sie auf den Strich schicken, und als sie nicht
parierte, hat er sie aus den 4. Stock vom Balkon geworfen. Der Freund
war selbst auf Droge und kann sich darum nicht erinnern. Der Sturz
in einen Maschendrahtzaun hinterliess böse Gesichtswunden, und sie ist
seitdem arbeitsunfähig, weil sie geht wie Quasimodo. Sie bekommt jetzt
"Sozialrente".
Oder wollen Sie die Jugend sehen? Unsere Ghettogangsta mit
langzeitarbeitslosen Eltern? Bei denen sieht es gesundheitsmässig
besser aus. Klar, das Geld, das die sich zusammenklauen oder -dealen,
landet höchstens mal beim Grassdealer.. oder man ist selbst einer.
Ansonsten geht die Kohle für weite Hosen, Markenshirts und Basekäppis
etc. drauf. Wenn man die Jungs so sieht, denkt man eigentlich nix
böses, aber Vorsicht: Brandgefährlich, die lieben Buben. Die prügeln
schon mal eine Oma wegen 20 Euro ins Krankenhaus. Die knacken auch
virtuos jedes Auto --> also den Wagen besser weit weg parken.
Diese Jungs fühlen sich als Gangster, und sie sind auch auf nem guten
Weg zu ihrem Ziel. Das Problem ist nur, wenn die Hierarchie im Ghetto
in Frage gestellt wird. Da fallen dann schonmal scharfe Schüsse mit
Toten im Viertel. Sie fragen jetzt woher die Waffen kommen? Wollen
Sie auch ne schöne Wumme? Grösse? Kein Problem! Ich würde sagen,
in 24 Stunden bekommen Sie mit genug Asche (sagen wir mal 200 Ocken) eine schöne Vollautomatische. Genauso sieht's mit Sprengstoff aus. Hallo Al Quaida *lol*
Ja, Herr Intendant! Es gibt dies und eine Menge mehr zu sehen in einer ganz normalen Stadtrandsiedlung in einer deutschen Großstadt. Nein, Herr Intendant, das ist kein extremes Wohnquartier. Es ist das Viertelin dem ich seit 15 Jahren lebe, und das seitdem (extrem seit Anfang dieses Jahres) den Bach runtergeht. Es ist das Viertel, in dem ich mir trotzdem noch den Arsch aufreisse, um durch ehrenamtliche Tätigkeit im Jugendzentrum (wenigstens das gibt's noch) wenigstens ein paar unserer Jugendlichen hier davon zu überzeugen, daß der Weg ihrer Eltern, grossen Brüder und Schulkollegen nirgendwo hinführt. Und wissen Sie was, Herr Intendant: Ich bin selbst Langzeitarbeitslos und ALG II Empfänger. Mich bezahlt niemand dafür.
Und Sie, der Sie höchstwahrscheinlich keine Ahnung haben, daß solche Zustände, wie die von mir beschriebenen überhaupt existieren, wollen erklären, daß Ihr schönes Teutschland in dem APPD-Spot unschön dargestellt wird ???
Kommen Sie raus aus ihrem schönen Villenvorort und sehen sie, wie Menschen in diesem Lande, das Sie für so sauber und perfekt halten, vegetieren müssen.
Mit besten Grüssen
alionsonny
Mit freundlicher Erlaubnis des Autors. |