Der gewöhnliche Reisende stellt sich den Amazonas aufregend vor. Der Inbegriff des Urwalds eben: Affen kreischen, Papageien krächzen, Grillen zirpen, Pumas fauchen, Piranhas drohen mit ihren Zähnchen, Alligatoren lassen ihre Mäuler weit klaffen, Schlangen winden sich träge um die Hälse unschuldiger Gringos. In Wahrheit kann eine Schiffsreise auf der Mutter aller Flüsse recht langweilig sein. Zehn Tage auf der Marcia Maria, einem Passagierschiff der Billig-Klasse, von Tabatinga bis Manaus, stromabwärts. Der Gringo nennt den Fluss Amazonas, will er sich bei den Mitreisenden unbeliebt machen; die Brasilianer nennen ihn Solimoes.. Und in den Hafenspelunken redet man ehrerbietig von ihm - er ist so mächtig, dass man seinen Namen nicht mehr nennen muss.
Das Interessante liegt wie immer im Detail und Gewöhnlichen. Im Prinzip steigt die Zahl der Passagiere ins Unendliche. Jeder, der an Bord kommt, knüpft seine Hängematte einfach in die Reihe. Männer und Frauen natürlich getrennt. Was dazu führt, dass die Gesäße der Schlafenden sich den Köpfen der unter ihnen Hängenden bedrohlich nähern. Zum Glück schaukelt es nicht, man kann sich also arrangieren. Über Gerüche redet man im Urwald ohnehin nicht.
Der Amazonas hat einen weiteren Nachteil, der ihn etwa vom Rhein unterscheidet: erstens ist er manchmal so breit, dass man genauso gut meinen könnte, man befände auf einem See, dessen Ufer kaum zu erspähen sind. Und zweitens sind eben dieselben Ufer grün. Und nur das. Immer nur grün. Und alle Bäume, die das Grün ausmachen, sehen sich ziemlich ähnlich. Keine Berge, keine Ritterburgen, kein Floß mit Aguirre, nur Urwald. Und das fast zwei Wochen lang.
Man steht auf Deck und sucht nach etwas Aufregendem. Ein Baumstamm, so groß wie ein halbes Haus, der dem Schiff friedlich entgegenschwimmt. Keep calm, das ist Sache des Kapitäns. Wer will sich darüber aufregen? Unzählige Flussarme und genau so viele Inseln - wo ist die Fahrrinne nur geblieben? Irgendjemand wird es schon wissen. Bis Peru ist der Amazonas mit Ozeandampfern zu befahren, 3000 Kilometer von der Küste bis fast zu den Anden.
Die Karte beweist: Amazonien ist eine eigene Welt, so groß wie Europa. Und der Amazonas ist die Lebensader. Unzählige Bücher sind über ihn geschrieben worden, über den Mythos, über die unvergleichliche Flora und Fauna, über die "Indianer". An seinen Ufers soll das sagenhafte El Dorado gelegen haben, die goldene Stadt. Und die Konquistadoren stiegen im Wahn immer wieder die Anden hinab und tauchten in den Urwald hinab. Das Grün macht alle gleich. Ein Mensch in Amazonien verliert sich wie eine Träne im Regen.
Die Menschen: ein Schiff, das an einem kleinem Ort anlegt, ist immer ein Ereignis. Boote, voll beladen mit Früchten, Mangos, Kürbisse, Bananen, Melonen, schwärmen aus und um die Marcia Maria wie Motten ums Licht. Wer genau hinsieht: die Paddel sind traditionell - groß und rund mit einer Spitze wie ein Blatt. So werden sie schon vor Hunderten von Jahren ausgesehen haben.
Ich war zwei Mal am Amazonas - die Fotos stammen von meiner zweiten Reise aus dem Jahr 1982. Mir ist, als wäre es vor einem Monat gewesen. Vielleicht erinnern wir uns unbewusst an die Frühzeit der Menschheit und and die Tatsache, dass ein Fluss Leben und Tod bedeuten kann. Mekong, Wolga, Orinoco, Nil, Mississippi, Amazonas - alle umspült von Mythen und Geschichten, ein Hauch von Abenteuer, auch wenn heute keine Gefahr droht. Dennoch: Flüsse sind wie die Berge des Himalaya: sie sind größer als der Homo sapiens, so groß, dass man ihr Wesen nicht wirklich erfassen kann. Sie tun, was sie wollen. Wenn man weiß, dass die Tide in Manaus mehr als zwölf Meter beträgt, kann man ahnen, welch unbändige Urgewalt hier am Werk ist. Der Amazonas fordert heraus, und niemand hat eine Chance gegen ihn. Und deshalb ist der Reisende auf einem Schiff nur auf ihm geduldet.
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BURKS ONLINE 14.12.2004
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