Müssen sie das überhaupt? Das investigativste aller Nachrichtenmagazine beglückt uns mit einer Titelgeschichte, die eben das suggeriert. Kern dieser These ist eine urban legend: Wenn Arbeiter mehr arbeiten, gehe es allen besser. Das ist selbstredend glatt gelogen, reine Propaganda der Unternehmer und spricht allen wirtschaftlichen Theorien, die nicht reine Propaganda der Unternehmer sind, Hohn. Mit gleichem Recht könnte man behaupten: die Erde ist eine Scheibe, und wenn meine Oma vier Räder hätte, wäre sie ein Omnibus.
Um das zu beweisen, klappen wir die Mottenkiste auf und holen den verstaubten, aber noch immer ziemlich kampfeslustigen Karl Marx hervor. Seine Theorie über den Arbeitslohn ist gar nicht falsch. Sogar die alte Tante Zeit zitiert: "Der Arbeitslohn, die sozialen Sicherheiten sind keine objektiven Größen, sondern es geht ein "historisches und moralisches Element" in sie ein, und das heißt, in letzter Instanz: "das Kräfteverhältnis der Kämpfenden".
Quod erat demonstrandum. Und nun wird es theoretisch respektive: es wird verbal kalt geduscht. Was hat eigentlich der Lohn mit dem Produkt zu tun, das ein Arbeiter herstellt? "Je größer die Produktivkraft der Arbeit, desto kleiner die zur Herstellung eines Artikels erheischte Arbeitszeit, desto kleiner die in ihm kristallisierte Arbeitsmasse, desto kleiner sein Wert. Umgekehrt, je kleiner die Produktivkraft der Arbeit, desto größer die zur Herstellung eines Artikels notwendige Arbeitszeit, desto größer sein Wert. So steht es im Marxschen Hauptwerk, im Kapital. Übrigens: der Wert ist nicht der Preis. Theoretisch könnten Streichhölzer zehn Euro kosten, wenn gerade keines auf dem Markt ist und alle so etwas dringend brauchen. Man kann das detailliert im Kapitel 18 "Der Zeitlohn" im "Kapital" nachlesen. Aber wer betreibt heute noch Marx-Exegese?
Viel kürzer und prägnanter steht es im Marx-Forum: "Der Kapitalist wendet die Arbeitskraft einen ganzen Arbeitstag an und er bezahlt für diese ganztägige Verwendung. Zahlt er also den vollen Gegenwert dessen, was ihn die Verwendung der Arbeitskraft einbringt? Wenn das so wäre, dann würde sich das für ihn nicht lohnen. Der Arbeiter bekäme das gesamte Wertprodukt.
Trotzdem wird der Arbeiter nicht vom Kapitalisten betrogen. Der Kapitalist bezahlt eben nicht für das Arbeitsprodukt des Arbeiters, sondern nur für den Lebensunterhalt des Arbeiters. Die Kosten für den Lebensunterhalt des Arbeiters sind immer geringer als das Wertprodukt seiner Arbeit. Anders ausgedrückt: Die Lohnarbeiter schaffen (in aller Regel) ein größeres Wertprodukt als sie für ihren Lebensunterhalt benötigen. Dieser Überschuss über die notwendige Arbeitszeit fällt als Mehrwert an den Kapitalisten.
Diese Tatsache ist aber durch die Form der Lohnzahlung verdeckt. Die Lohnarbeiter bekommen "für den ganzen Arbeitstag" Lohn. Daraus zieht sich leicht der falsche Schluss, dass alle Arbeit des Arbeiters bezahlte Arbeit sei.
Dieser falsche Schein wird noch verstärkt durch die Formen des Arbeitslohnes: dass der Lohn mit der Länge der Arbeitszeit wechselt (Zeitlohn), und dass verschiedene Arbeiter für unterschiedliche Arbeitsleistung unterschiedlichen Lohn bekommen (Akkord-, und Prämienlohn)."
Als unbedarfter Laie fragt man: Wie wirkt eine längere Arbeitszeit auf den Profit? Ganz einfach: der wird mehr und größer. Hat das etwas mit dem Lohn zu tun? Nein. Die Mehrarbeitszeit wird natürlich entgolten. Natürlich? Noch nicht einmal das: die Arbeiter verzichten freiwillig auf den Lohn, den sie hätten für mehr geleistete Arbeit erhalten müssen. Wie soll man das verstehen? "Länger arbeiten schafft Wohlstand", so die Theorie in der Titelgeschichte des Spiegel. Pointiert: je mehr Profite die Kapitalisten machen, um so besser wird die Welt.
Das hörte man schon einmal: im 18., 19. und 20. Jahrhundert, vom Frühkapitalismus ganz zu schweigen. Wahr und überzeugender wird es dadurch nicht. Man könnte stattdessen auf die doch abwegige Idee kommen, dass der Profit sich auch erhöhen würde, wenn die Unternehmen mehr Leute einstellen würden? Dann wäre die Welt der Unternehmer doch auch wieder in Ordnung?
Im Originalton Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo laut Spiegel: "Der Effekt einer verlängerten Arbeitszeit wäre beträchtlich. Wenn die Löhne dadurch im Durchschnitt nur um zehn Prozent unter ihrem heutigen Niveau lägen, so Sinn, 'dann könnten unter sonst gleichen Voraussetzungen in Deutschland über vier Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze entstehen.'"
Jetzt müssten Sie, liebe geneigten Leserinnen und wohlwollende Leser, sich mit dem tendenziellen Fall der Profitrate beschäftigen und dazu den dritten Band des Kapital studieren. Dort steht, warum die Unternehmer immer fordern müssen, dass die Arbeiter weniger verdienen sollen - und das schon so lange, wie es den Kapitalismus als solchen gibt. Und schon immer gab es Medien, die die Propaganda des Kapitals unkritisch übernahmen. Aber, wie gesagt, eine Marx-Exegese wollen wir niemandem zumuten. So etwas würde den medialen Mainstream zu sehr irritieren und käme in den Geruch des Linksextremismus - und das ja fast schon verboten. Also: Marx in die Mottenkiste, Kiste zu, und eine Staubwolke vernebelt unser aller Hirne. ---------------------------------------------------------------------------------------------BURKS ONLINE 04.07.2004 Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung nur mit Genehmigung des BurksVEB.
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