Kreuzberg ist bekanntlich der einzige Ort in Deutschland, in dem es sich leben lässt. Hier gehen auch Spießbürger bei "Rot" über die Ampel, Schrippen gab es Sonntags schon immer, und jeder darf ohne Licht Fahrrad fahren. Und wenn ein dreibeiniges Alien mit lila Glubschaugen vor der berühmten Imbissbude Curry 36 am Mehringdamm seine Wurst verzehrte, würde kein Berliner sich umdrehen, sondern nur denken: 'noch ein Verrückter mehr - wahrscheinlich aus Westdeutschland.'

Kreuzberg ist nicht nur romantisch und hat unzählige Kneipen und einen künstlichen Wasserfall, der einen natürlichen Berg herunterfließt, sondern auch Grachten und Badestrände. Der interessierte Tourist begebe sich auf die Lohmühleninsel. Früher stand dort am Ufer des Kanals in Richtung Osten eine hölzerne Palisadenwand mit Schießscharten. Wer hindurchblickte, sah einen Wachtturm mitten im Hafenbecken. Die Grenzsoldaten konnten ihn nur mit einem Boot erreichen. Von dort aus überblickte man die Oberbaumbrücke, die vor dem Mauerfall ohne Türme war, weil irgendjemand sie im zweiten Weltkrieg weggeschossen hatte und die ein Grenzübergang nur für "Westberliner" war.

Auf dem Kanal mit der Schleuse lagen früher ein paar Hausboote, auf dem schmalen Streifen jenseits der Brücke - bis zur Mauer - stand ein einsames Haus, das zum Wasser hin merkwürdige Gerätschaften darbot, die irgendwie etwas mit Fisch- oder Aalfang zu tun hatten. Heute tummeln sich dort die neuen Mittelschichten in unzähligen Kneipen, dicht an dicht. Man kann sogar versehentlich ins Wasser fallen - der TÜV, das Garten-, Strassen- oder Tiefbauamt oder wer auch immer bürokratisch zuständig ist, haben großzügig auf die Pflicht zur Rundumsicherung der in der Freizeit gefährdeten BürgerInnen verzichtet.

"Alternative" Kneipen erkennt man daran, dass die Bedienung jung ist und nicht durchblickt und dass die Gäste größzügig über kellnerische Inkompetenz hinwegsehen, weil man es unstrittig nicht mit Profis zu tun hat, sondern vermutlich mit Studenten oder anderen armen Schweinen. Wer also nach einer halben Stunde immer noch nicht das bestellte Getränk hat, dieses aber mehrfach bei anderen, später gekommenen Gästen serviert wird, bleibt gelassen und denkt an die Sitten und Gebräuche in entlegenen Landstrichen Lateinamerikas, wo man froh ist, überhaupt etwas zu bekommen, was dem geäusserten Wunsch entfernt ähnelt. Die persönlichen Impressionen des Autors sollten aber nicht Anlass sein, kulturpessimistische Erörterungen darüber anzustellen, dass man heutzutage mit dem Personal immer nur Ärger hat.

Gleich nebenan warten ein Sandstrand, Liegestühle und andere Annehmlichkeiten der Freizeitkultur. In der Spree schwimmt ein hohles Schiff, und darin schwimmen Badegäste. Das ist hip und angesagt und vor allem mitten in Berlin bzw. Kreuzberg. Was noch fehlt, sind türkische und arabische Großfamilien, die dort grillen und die neuen Mittelschichten bei der Freizeitgestaltung stören, und Großgruppen japanischer Touristen, die alles fotografieren. Diesem Missstand wollen wir durch den dezenten Hinweis, wie nett es an der Grenze zwischen Kreuzberg und Treptow ist, abhelfen. Gringos, Japaner und Ost-Prolls mit Glatze, Jogging-Anzug und Pitbull: das wahre Berlin könnt ihr nur dort erleben. Nichts wie hin!