Der Diskurs über Einwanderung wird hauptsächlich als Diskurs über die Chancen und Gefahren für die deutsche Nationalökonomie geführt. Die ökonomische Nation ist eine Chiffre kollektiver Sehnsüchte und Ängste, die an xenophobischen Vorstellungen über die archetypischen Gefahren des Fremden anknüpft. Wie im Rassismus gilt es auch hier, das undefinierbare Eigene vor dem drohenden, kostenintensiven oder verderblichen Zugriff des imaginären Fremden zu schützen.
Das Bedürfnis, die projizierten, ins Gigantomanische gesteigerten "Migrationsströme" und "Flüchtlingswellen" eigenmächtig durch Begrenzung und Steuerung ordnen und aufhalten zu wollen und zu können, entspringt der Allmachtsphantasie der kolonialen Naturbeherrschung. In diesem Projekt sollte das kolonisierte Andere - das zu dieser Zeit noch in Bildern des unzivilisierten, wilden Naturmenschen oder als reißende menschliche Bestie in Europa herumgeisterte - als Teil der Natur durch westliche Technik und moderne Sozialdisziplinierung gebändigt werden. Gestern wie heute lassen sich solche Diskurse am ehesten als kollektive Psychogramme lesen, in denen unverblümt jene Kontroll- und Abwehrschlachten geschlagen werden, die aufgrund ihrer wahnhaft-irrationalen und narzisstisch-nationalistischen Stoßrichtung als politischer Extremismus oder auch nur als weltfremd zu diagnostizieren sind.
Zur Zeit wird der nationalökonomische Diskurs offensichtlich von einer politischen Kultur protegiert, die ökonomische Fragestellungen zur Substitution jener ideologischen Debatten gebraucht, die aufgrund der mühsam eingeübten politischen Konventionen im etablierten Rahmen nicht mehr offen, sondern nur über Umwege artikuliert werden. Da die Ideologie der Nationalökonomie statt an Intellekt oder Empathie vor allem an wohlstandschauvinistische Bauchinstinkte und irrationale Katastrophenängste appelliert, nach innen integriert, indem sie sich nach außen abgrenzt, nationale Überlegenheitsgefühle und das massenwirksame Bild der "Schicksalsgemeinschaft" in den ungewissen Zeiten der Globalisierung revitalisiert, konnte sie als öffentlich anerkanntes Dogma hegemonial werden.
Darüber hinaus findet sich die nationalökonomische Logik auch in vermeintlich kritischen Diskussionen wieder. So wurde und wird im deutsch dominierten multikulturellen Diskurs, der die binäre Grenzziehung zwischen dem "Eigenen" und dem "Fremden" verfestigt, eine positive Einwanderungsbilanz errechnet, die gemäß der migrationspolitischen Wertorientierung besonders hervorgehoben wird. Wie selbstverständlich wird MigrantInnen die Aufgabe zugesprochen, Deutschland durch kulturelle Konsumangebote und ökonomische Dienstleistungen bereichern zu müssen. Auf diese Weise wird diskursiv und sozio-ökonomisch das bestehende Zentrum-Peripherie-Modell unhinterfragt reproduziert.
Seit ihren Anfängen in den 80er-Jahren tragen multikulturelle Bereicherungsdiskurse zu einer politischen Haltung bei, die die gesellschaftliche Akzeptanz der Einwanderung von Vorteilen für Deutschland abhängig macht.(1) Wer das Nützlichkeitskriterium in der Einwanderungsfrage akzeptiert, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, was mit niedergelassenen MigrantInnen passiert, wenn die Einwanderung zum Minusgeschäft wird und sie als gesellschaftliche Belastung deklariert werden. Konsequenterweise müssten diese Menschen den vielfältigen Formen des "Verschwindens" erliegen, da ihr Existenzrecht in Deutschland kein Selbstzweck, sondern an Gewinnerwartungen gebunden ist.
Inzwischen hat sich mit der Debatte über das Zuwanderungsgesetz eine breite Koalition für eine kontrollierte Zuwanderung formiert, die vom grün-alternativen bis zum christlich-konservativen Spektrum reicht und auch Unternehmensverbände und Gewerkschaften vereint. Dieses deutsche "Bündnis der Vernunft" hat sich neben der vermeintlichen "Weltoffenheit" vor allem der gesellschaftlichen Modernisierung Deutschlands verschrieben. Entsprechend rekurriert der ökonomische Zielkatalog einerseits auf Vorteile für deutsche Unternehmen und verspricht andererseits die Sicherung der Sozialversicherungssysteme für das deutsche Volk(2). die durch den Arbeitseinsatz junger leistungsfähiger MigrantInnen miterwirtschaftet werden soll.
Mit der Revitalisierung des utilitaristischen Nutzkalküls im nationalen Interesse schließt die heutige Diskussion mit einer modernisierten Akzentsetzung an Zielvorgaben an, die seit der Konstituierung deutscher Migrationspolitik zu ihren Axiomen gehörten. In der aktuellen Zuwanderungsdiskussion drückt sich die Instrumentalisierung in einem kalten Nutzkalkül aus, das rassistische Präferenzen nicht ausschließt. Einwanderungswillige werden nach nationalen Verwertungsgesichtspunkten hierarchisiert und nach ihrem sozio-ökonomischen und kulturellen Nutzwert für die deutsche Gesellschaft aussortiert. Dabei wird eine Subjekt-Objekt-Struktur und Hierarchisierung der Welt reproduziert, die die Masse der Menschen aus ehemals kolonisierten Entwicklungsländer abschreibt.
Diesmal stehen nicht Fragen "biologischer Wertigkeit", sondern die Qualität bzw. der Qualifizierungsgrad des "Humankapitals" im Vordergrund, der den Menschen nützlich oder unbrauchbar erscheinen lässt. Nur eine kleine, zumeist westlich orientierte Bildungselite wird diese Auswahlprozedur überstehen. Aber auch sie bleiben innerhalb der Struktur eines flexibilisierten Rassismus Verfügungsobjekte, die nicht frei über ihre Anerkennungskriterien und Zugangsbedingungen bestimmen können. Auch die Elite der Marginalisierten bleibt vom weißen Blick abhängig, der sie kategorisiert. Obwohl VIP-MigrantInnen bessere Ausgangsbedingungen und mehr Optionen haben, verfügen auch sie innerhalb des "neuen" Migrationsregimes nicht über autonome Handlungsräume und einem eigenständigen Wert, der nicht an Bedingungen geknüpft ist.
Damit beschreitet die Flexibilisierung deutscher Zuwanderungspolitik mit ihrer Differenzierung von hierarchisierten Rechten und Zugängen anhand von Nationalität (EU-BürgerInnen) und beruflich-sozialem Status (Trikont) Wege, die uns bei Beibehaltung der europäischen Wohlstandsburg konzeptionell auf den Stand der kolonialen Migrationspolitik Preußens bringen.(3)
Da die angestrebte Liberalisierung der Migrationspolitik nicht im Rahmen eines menschenrechtlichen Projektes der Bewegungsfreiheit als politischer Selbstzweck begriffen wird, ist ferner darauf hinzuweisen, dass ihre wirtschafts- und nationalliberale Motivlage durchaus kolonialen Traditionen folgt. In der derzeitigen Diskussion bleibt unbeachtet, dass die ideologischen Wurzeln kolonialer Politik in Deutschland im modernisierungswilligen Reformliberalismus der 1840er-Jahre liegen, der mit Hilfe von Migrationspolitik die soziale Frage zu lösen beabsichtigte.(4)
Noch grundsätzlicher zeigt die Auseinandersetzung mit der Schule der englischen "Kolonialreformern" um Jeremy Bentham und John Stuart Mill wie sehr der liberale Utilitarismus sowohl in seinen theoretischen Grundlagen als auch in seiner politischen Haltung mit einem sozialimperialistischen Denken verknüpft ist.(5) Da globale Migrationsprozesse nicht nur transnationale Beziehungen zwischen Peripherie- und Zentrumsgesellschaften, kapitalistische Arbeits- und Distributionsverhältnisse, sondern auch neoliberale und neokoloniale Politikansätze reflektieren, könnte in diesem Kontext die Aktualisierung und Weiterentwicklung kritischer Imperialismustheorien unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer und postkolonialer Fragestellungen aufschlussreiche Erkenntnisse produzieren.
Letztlich ist es kein Zufall, dass im heutigen Migrationsdiskurs koloniale Metapher wiederkehren, die man durch Verschweigen zu überwinden glaubte. Ohne jegliches Unbehagen werden Strategien für das "head-hunting" im "Kampf um die besten Köpfe" für die Deutschland AG entwickelt, um von kannibalistischen "brain-drain" zu profitieren. Diese seitenverkehrte Reaktualisierung kolonialer Stereotypen verdeutlicht zum einen, dass koloniale Fremdbilder der ambivalenten Eigenprojektion entstammen, die je nach Kontext als Verlangen auf- oder als Schreckensvisionen abgewertet werden.
Zum anderen erleben wir, wie ungehemmt die tief verwurzelten Machtverhältnisse einer eurozentrierten Diskursstruktur in der Gegenwart funktionieren. In dem Maße, in dem "Weiße" durch ihre dominanten Positionen es schaffen, die Anderen von "weißen" Konstruktionen des Anderen abhängig zu machen, in dem Maße können sie ihre Interessen als Selektionskriterien einsetzen und über die Distribution von Lebenschancen entscheiden.
Neuerdings sollen die Goethe-Institute als zeitgemäße Anwerbebüros für akademische und kreative KopfarbeiterInnen fungieren, um etwa die neu entdeckte Cyborg-Spezies des "Computer-Inders" für deutsche Dotcom-Startups und Blue Chips zu sichern. Vergessen wird dabei, dass dieses Menschenbild koloniale Wunschträume nach einem menschlichen Perpetuum mobile widerspiegelt, das in diesem Kontext keine postmoderne Konstruktion anzeigt, sondern kolonialrassistische Stereotype reproduziert.
Es scheint, dass Ferdinand Freiherr von Richthofen nicht nur ein preußischer Kolonialreisender des 19. Jahrhunderts war, sondern mit seinen migrationspolitischen Vorstellungen> auch in der Berliner Republik en vogue wäre: "Allein China birgt andere Schätze für den Weltmarkt welche ihrer Hebung warten. Der Bedeutendste unter ihnen ist die unermesslich große, überaus billige und intelligente menschliche Arbeitskraft - Das mechanische Talent des Chinesen macht es ihm leicht, auf allen Gebieten der technischen Industrie, die ihm gelehrten Handgriffe mit Geschicklichkeit auszuführen. Zähe Ausdauer und äußerste Geduld unterstützen dabei sein Aneignungstalent - Er erfüllt am vollkommensten das Ideal einer menschlichen Arbeitsmaschine, nicht allein weil er gleichförmig wie eine Maschine, sondern weil er zugleich intelligent arbeitet."(6)(1) Vgl. etwa Tichy, Roland (1990): Ausländer rein! Warum es kein "Ausländerproblem" gibt, München [Piper], S. 86-138.
(2) Unabhängige Kommission "Zuwanderung" (2000): Zuwanderung gestalten - Integration fördern, Berlin
(3) Bade, Klaus J. (1983): Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland. Deutschland 1880-1980, Berlin [Colloquium], S. 33
(4) Smith, Woodruff D. (1996): Colonialism and Colonial Empire, in: Chickering, Roger (Hg.): Imperial Germany, Westport [Greenwood], S. 430-53, hier S. 433, 437.
(5) Semmel, Bernard (1976): Die "Philosophischen Radikalen" und die Kolonien; in: Wehler, Hans Ulrich (Hg.): Imperialismus, 3. Aufl. (1969), Köln [Kiepenheuer & Witsch], 170-182; Bade, Klaus J. (2000): Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München [Beck], S. 173-9.
(6) Ferdinand Freiherr von Richthofen (1882): China, Berlin zit. nach Stoecker, Helmuth (1976): Preußisch-deutsche Chinapolitik in den 1860/70er Jahren; in: Wehler, Hans Ulrich (Hg.): Imperialismus, 3. Aufl. (1969), Köln [Kiepenheuer & Witsch], S. 243-258, hier S. 254.
Der Text ist ein Auszug aus Kien Nghi Ha: "Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik"; in: Encarnación Gutiérrez Rodriguez/Hito Steyerl (Hg.): "Postkoloniale Kritik und Migration", Münster [Unrast] 2003, S. 56-107.
Kien Ha ist Politikwissenschaftler und Autor von "Ethnizität und Migration" (1999). Vgl. auch seine Gastkolumne auf burks.de: "Hybride Bastarde" (17.07.2003). Eine längere Version dieses Artikels: "Migrationspolitik als nationales Unternehmen: Institutionelle Einschreibungen rassistischer Marginalisierungen". Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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