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 Mythos Kreuzberg [Teil II]: Zwei Geschichten aus SO 36 Nächstes Thema anzeigen
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burks
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Anmeldungsdatum: 07.10.2002
Beiträge: 6757
Wohnort: Berlin-Neukoelln

BeitragVerfasst am: 05.05.2003, 08:14 Antworten mit ZitatNach oben

Zwei Geschichten aus SO 36

In der Nacht zum 10. Mai - irgendwann Mitte der 90er Jahre - drängeln sich einige hundert Gäste in der Diskothek "Trash" in Berlin-Kreuzberg. Das Etablissement liegt im ersten Stock eines Eckhauses am Oranienplatz, mitten im alten Postzustellbezirk "36". Direkt vor dem Haus verläuft die Oranienstrasse mit Dutzenden von Restaurants, der gehobenen und weniger gehobenen Güteklasse, schrillen Läden, deren Dekoration Touristen aus Kleinstädten an ein Horror-Kabinett denken läßt, und Geschäften, wie sie sich in jeder türkischen Großstadt finden lassen. Das Publikum des "Trash" befleissigt sich eines Äusseren, das nicht ganz dem Namen des Lokals entspricht, nur ein wenig. Es dominieren keine zarten Frühlings-Farben, sondern eher dunkle Töne. Dafür ist die Frisur der Gäste um so greller. Den Aufgang zur Diskothek schmücken Graffitis, die dem Geschmack der Gäste entsprechen.

Über dem "Trash" - in der vierten Etage - liegt ein gleich grosse Halle, die für Familienfeierlichkeiten vermietet wird. Die Leute, die hier verkehren, sind zumeist dem Anlass entsprechend sehr schick gekleidet, zwar nicht immer in gutbürgerlichem Stil, aber doch so, daß sie von jedem Spielbank-Portier erfreut eingelassen würden. So auch an diesem Abend: Eine türkische Hochzeitsgesellschaft tanzt, das junge Paar lässt sich Geschenke und Geldscheine zustecken, der Geräuschpegel kann sich mühelos mit den hämmernden Punk- und Heavy-Metal-Rhythmen von unten messen. Es ist schon nach Mitternacht, sowohl die Gäste des "Trash" als auch die der Hochzeitsgesellschaft sind erheblich angeheitert.

Was genau geschah und warum es passierte, das kann niemand mehr genau sagen. Unstrittig ist, dass kurz vor ein Uhr eine Gruppe von Punks von türkischen Gästen unten auf der Straße, direkt vor dem Eingang, in ein Gespräch verwickelt wurde. Zeugen berichten davon, dass ein Punk ein Mädchen belästigt habe, andere behaupten, die türkischen Männer hätten den Punks verächtliche Bemerkungen über deren Aussehen zugeworfen, wieder andere sprechen von Auseinandersetzungen über den divergierenden musikalischen Geschmack, Passanten meinen, das Imponiergehabe einiger junger Männer hätte den Ausschlag gegeben. Kurz: Binnen weniger Minuten entwickelte sich eine wilde Massenschlägerei zwischen fast allen Gästen des "Trash" und fast allen männlichen Gästen der türkischen Hochzeitsgesellschaft.

Normalerweise ruft man in solchen Fällen die Polizei, deren Auftreten auf der Bühne Randalierer in den meisten Fällen abkühlt und die die trotzdem Unbelehrbaren schnell dingfest macht. Hier war es anders: Mehr als hundert Beamte mußten ausrücken und wurden doch nicht Herr der Lage. Kaum war wieder die Besatzung einer "Wanne" ausgestiegen, wurde sie in die Keilerei einbezogen. Da es keine Anführer gab und die prügelnde Masse alkoholisch enthemmt reagierte, gelang es in den nächsten zwei Stunden den Beamten nicht, den Streit zu schlichten. Zwei Buslinien mußten umgeleitet werden, die Oranienstrasse blieb komplett gesperrt. In den umliegenden Krankenhäusern sammelten sich die Verletzten.

In den Fenstern der umliegenden Häusern und vor den Kneipen sammelten sich zahlreiche Personen, die nach Angaben der Polizei gleichfalls betrunken waren und die die Kombattanten lauthals anfeuerten, je nach Vorliebe für eine der beiden Parteien. Die Polizei konnte den Hintergrund der Massenschlägerei nicht nennen. Ebensowenig gelang es ihr trotz verstärkter Bemühungen, auch nur einen der Beteiligten zu verhaften.1

Das ist die erste Geschichte. Sie handelt von dem, was jetzt - nach dem 1. Mai 2003 - gern als "sinnlose" Gewalt bezeichnet wird. Die das tun, würden vermutlich die Invasion des Irak als "sinnvolle" Gewalt benennen. "Geplante Gewalt, grundlose Attacken, organisierte Zerstörung" - das gab es schon immer. Ein Heuchler, wer sich wundert. Ausserdem ist es nicht wahr. Für die Täter ist die Randale sinnvoll. Ich darf mich selbst zitieren: "Der Gewalt-Diskurs ist eine Meta-Theorie, mittels derer unterschiedliche Milieus darüber kommunizieren, wie sie andere Milieus sehen. Jedes Milieu hat Lobbyisten, Experten, die vorgeben, den verschlüsselten Kode der anderen Milieus verstehen zu können. [...] Wer über Gewalt kommuniziert, demonstriert, daß er selbst über nur begrenzte Macht verfügt. Man will, daß die, die den eigenen sozialen Status potentiell bedrohen, sich an Regeln halten, die man selbst aufgestellt hat. Nur die Mittelschichten fordern von allen anderen, sich an Regeln zu halten, weil sie "Angst vor dem Absturz" (Barbara Ehrenreich) haben. [...]Gewalt ist eine Ikone, ein sinnliches, also medial vermitteltes Bild eines Phänomens, das unterschiedliche Gruppen jeweils verschieden wahrnehmen und interpretieren. Hooligans finden Gewalt geil. Sie verschafft ihnen alles, was das Leben versprechen kann: Körpergefühl, Überschreiten der Grenzen, Macht, Gruppendynamik, Thrill. Ein Trip ohne psychotrope Hilfsmittel."2

Die zweite Geschichte habe ich selbst erlebt. Sie zeigt, was sich seit Jahren in Kreuzberg anbahnt, was jeder hier spürt. Nur sehen die gut Meinenden weg. Und jetzt und in den nächsten Jahren werden sie von einer Entwicklung überrollt werden, die nicht mehr zu stoppen ist.

Eine Hinterhof-Party in der Oranienstrasse - Ende der 90er. Ein Kreuzberger Verlag feiert ein Jubiläum und sich selbst. Ein Buffet, junge Damen, die Tabletts mit Getränken herumreichen und deren weiss gestärkte Schützen sich gegen das Trash-Ambiente abheben, die neuen Mittelschichten mit alternativer Vergangen-, aber nicht unbedingt Gegenwart. Das Tor zur Strasse ist geschlossen. Gesichtskontrolle von Männern mit kantigen Gesichtern und Schultern.

Um Mitternacht Lärm. Steine und Flaschen fliegen von der Strasse über das Tor in den Hof. Tränengas wird gesprüht. Weinende Männer in schicken Anzügen suchen drinnen Zuflucht. Draussen steht das Jungvolk mit "Migrationshintergrund", wie das im Gutmenschen-Neusprech heisst. Die mit den türkische, kurdischen und arabischen Müttern und Vätern finden die alternativen Yuppies Scheisse. Sie wollen das Buffet abräumen. Und einfach stören, auf sich aufmerksam machen. Sie sind ausgesperrt. Sie wollen rein und rütteln am Tor wie der junge Gerhard Schröder am Zaun des Kanzleramts. Schlägerei. Die Türkenjungs halten sich nicht an Regeln, die sie ohnehin nie verstanden haben. Sie haben keine Chance, weil die Gesellschaft ihnen keine gibt, und das zeigen sie denen, die zufällig gerade da sind und die - so vermuten sie richtig - etwas vom Kuchen abbekommen haben. Wieder geht es um Symbolik. Wir da unten, die da oben. Sinnlose Gewalt! rufen die, die durch das Ambiente symbolisch "oben" sind. Leckt uns am Arsch! antworten die anderen ganz unpolitisch. Aber nichts ist unpolitisch.

Die Klientel der Krawallmacher hat sich seit dem 1. Mai 1987 schon mehrfach geändert. Die Generation auch. Jetzt - und das ist die Zukunft Kreuzbergs - zeigen die Immigranten, die sich nur noch Wohnungen im Wedding und im Osten leisten könnten, der Gesellschaft, was sie von ihr halten. Und das tun sie an dem Ort, der in Berlin am meisten symbolisch besetzt ist, wenn es um Gewalt geht - Kreuzberg eben. Wo sonst.

1) www.burks.de/szene.html - der Epilog meines Buches "Im Griff der rechten Szene", erschienen 1997
2) www.burks.de/artikel/jw798a.html - Die Bösen sind die anderen - über die Inszenierung von Gewalt
Die Fotos stammen von [url]de.indymedia.org/2003/05/50259.shtml[/url]

Teil I: www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?p=4313
Teil III http://www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?t=1267
05.05.2003
© BurkS

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