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 [Spuren der Macht] Der Name der Tulpe 5: Komplet Nächstes Thema anzeigen
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burks
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Anmeldungsdatum: 07.10.2002
Beiträge: 6757
Wohnort: Berlin-Neukoelln

BeitragVerfasst am: 11.07.2003, 23:49 Antworten mit ZitatNach oben

Diese - hier stark gekürzte - Geschichte erschien 1990 in meinem Buch Spuren der Macht im Rowohlt-Verlag. Ich hatte mich eine Woche in einem Kloster einquartiert. Dort erfuhr ich von einem mysteriösen Todesfall und recherchierte in der Klosterbibliothek...
In Vigil und Laudes geht es um das Leben der Benediktiner. In Sext stürzt sich ein Novize aus dem Fenster, und sein Novizenmeister verschwindet spurlos im Reintal bei Garmisch. In Non erhalten wir einen kleinen Aufschub, das Rätsel des Verschwindes betreffend. In Vesperale legen die Mönche einen Stein auf das Grab im Klostergarten...


Komplet

Schon während der Vesperale wird es dunkel. Die Basilika ist nachmittags fast immer voll: es kommen, neben den Gläubigen aus den umliegenden Dörfern, Touristen und Schulklasen, denen der authentische gregorianische Choral, lateinisch selbstverständlich, vorgeführt wird. Der liturgische Gesang der katholischen Kirche ist, wie vieles an ihr, alt: er leitet sich von Papst Gregor I. ab, der an der Schwelle zum sechsten Jahrhundert das oberste Amt innehatte und dem das Durcheinander der Gesangsarten, byzantinische, mozarabische, keltisch-irische und einige andere mehr, missfiel. Nicht zufällig vereinheitlichte man parallel zur musikalischen Ausgestaltung der Messe Verwaltung und Kirchenrecht.

Einer der Mönche, ein klarer Tenor, singt allein, es wird sich wohl um einen Psalm handeln, die anderen antworten im Chor. Ursprünglich wechselten sich Männer- und Knabenchöre miteinander ab, was man Antiphonie nennt. Die Melodie ist frei. Ich spüre keinen Takt und keinen bestimmten Rhythmus und könnte das, was gesungen wird, nicht wiederholen, auch nicht nach einer Woche Training. Ausserdem eiert der Vorsänger beinahe chromatisch die Tonleiter auf und ab. Es kommen kaum größere Sprünge als eine Quinte vor. Das klingt exotisch und ist unseren musikalischen Hörgewohnheiten fremd.

Natürlich gibt es schriftlich niedergelegte Begründungen von Kirchenmännern, warum das alles so sein sollte. Ein Benediktinermönch: dass der Takt fehle, stehe in scharfem Gegensatz zu "aufdringlichen und aufreizenden Rhythmen heidnischer, auch kultischer Tanzmusik."1 Und, zu der scheinbaren Chromatik: "Je größer die seelische Erregung ist, um so mehr weiten sich die Intervalle."

Was und wie gesungen werden darf, bestimmten die kirchlichen Vorschriften. Das war bis ins 17. Jahrhundert fast unumstritten. Zum Cantus firmus, der festgelegten Melodie, stehen die anderen Stimmen in einem ebenso festgelegten Verhältnis. Die Kunst, alles miteinander zu verschachteln, ohen dass das musikalische Ergebnis zu schreienden und die Seelen der Kirchenbesucher quälenden Dissonanzen führt, ist der Kontrapunkt. Vor der Jahrtausendwende sang man ausschliesslich a capella, das heisst ohne Orgelbegleitung, wie noch heute in der Sixtinischen Kapelle.

Etwas, was wir nicht verstehen, beeindruckt uns mehr als etwas, das uns vertraut ist, wie auch der Prophet im eigenen Land nichts gilt. Je grösser die Distanz, um so mehr verstärkt sich die Furcht, aber auch die Neugierde, sich dem Geheimnis zu nähern. Das Heilige lockt und fordert heraus, seine Macht auf die Probe zu stellen. Wir schwanken zwischen Hingabe und Aufsässigkeit.

Das wussten und wissen die Theoretiker der Kirche. Der Gesang des Mönchschores wirkt wie ein Verstärker dessen, was man sieht, er hat kein Eigenleben: die Texte stammen aus der Bibel wie die Predigt auch, die Melodie bleibt über Jahrhunderte die gleiche. Niemand, der den fremdartigen Klängen lauscht, kommt auf dumme Gedanken. Deshlab ist es kein Wunder, dass die Kurie ihre Macht über die Gefühle der Gläubigen schwinden sah, als die Protestanten den Gemeindegesang einführten. Auf dem Konzeil zu Trient 1564, das sich nicht nur mit der Verfolgung der Ketzer und Ungläubigen beschäftigte, sondern auch mit der Kirchenmusik, wurde der Komponist der päpstlichen Kapelle, Giovanni Palestrina, von einer Reformfraktion heftig angefeindet. Die Musik Palestrinas zollte dem Zeitgesit zwar Tribut, weil sie mit Dur und Moll hantierte, blieb aber immer noch der traditionellen Form der Polyphonie verhaftet.

Klaus Theweleit referiert in seinem Buch der Könige diesen Machtkampf: "Die Kardinäle wollten einen Kirchengesang einführen, bei dem die Gemeinde den Text versteht. Es ist klar, warum sie das wollen: die lutherische Kirche mit ihrem von der ganzen Gemeinde gesungenen Choralgesang beginnt der römisch-katholischen Liturgie in einem entscheidenden Punkt überlegen zu werden: in den affektiven gedanklichen Beteiligung der Gemeinde am Inhalt des Gottesdienstes. die polyphonen Gesänge Palestrinas dagegen umwerben die Zuhörenden mit reinem Sound. Der Text ist lateinisch und auch sonst nicht zu verstehen. Allein der Klang dieser Musik, sein machtvolles Rauschen im Kirchngewölbe, soll den Glauben verstärken.

Den Glauben zu verstärken heisst - für den gregorianischen Männergesang - nur, sich zu vergewissern, ob man sich noch im einklang mit dem Transzendenten befindet. die Besucher der Basilika staunen: die Mönche machen uns vor, wie ds Ideal des Katholizismus sein sollte, nämlich die perfekte Harmonie zwischen einem Individuum und den Anforderungen eienr Moral, die fordert, sich Geboten der autoritären Macht unterzurodnen. Dazu muss man seine Gefühle aufgeben, verschmelzen mit dem, was religiöse Menschen mit dem "Göttlichen" bezeichnen, sich verlieren in einer fiktiven Gemeisnchaft, die jegliche eigenverantwortung ausschliesst. Man ist nur etwas wert, wenn man nicht smehr wert ist.

Gleichzeitig ist klar, dass das Klosterleben ein Sonderfall bleibt, den als Vorbild zu verallgemeinern die Gläubigenüberfordernwürde. Man wundert sich, wie und warum es jemandem gelingt, als Mönch zuleben, undgeht auf Distanz: die Gebote eines moralischen Systems werden erst bewusst, wenn man sie übertreten kann. Die Kirche braucht beide Seiten: die sündigen Beter, die deshalb sündig sein müssen, weil ansonsten die Gnade der Erlösung und mit ihr der geamte Klerus überflüssig wäre, und die Mönche, die so tun, als könnte man, wenn man sich nur gehörig anstrengte, im Einklang mit der Religon leben.

Am abend, gegen acht Uhr, lauche ich der Komplet, dem Nachtgebet. Die Lichter vorn im Altarraum sind gelöscht, die Orgelschweigt, nur wenige Besucher finden ihren Weg in das kühle Kirchenschiff. Sie wollen den Segen, um ruhig schlafen zu können. Nach dem Gesang der Mönche schwenkt der abt den Weihrauchkessel über den Chor, danach über uns. ein feines Klingen durchdringt die aufsteigenden Rauchschwaden. Paarweise ziehendie Sänger ab, das Knirschen der Ledersandalen verliert sich im Kreugang der Abtei. Wir sind allein.

Während sich die letzten Beter schwerfällig erheben und in die Nacht davonmachen, muss ich an eine Blume denken, die Tulpe. Irgendwann im 17. Jahrhundert tauchte sie in vielen Gemälden auf, vor allem bei holländischen Malern, versehen mit geheimnisvoller Symbolik und Querverweisen auf die Auferstehung, den Unterschied zwischen Gut und Böse und den Kreislauf des Lebens.

Die Tulpe war zunächst nur ein exotisches Gewächs aus der fernen Türkei, die Wohlhabende für ihre Raritätenkabinette sammelten. Innerhalb von nur gut zwanzig Jahren jedoch mauserte sie sich in ganz Westeuropa zu einer Modeblume. Tulpenzwiebeln erzielten horrende Preise. Die Spekulation führte dazu, dass eine Semper Augustus, eine spezielle Sorte, mit dem gewicht von knapp zehn Gramm, für 4600 Gulden und eine neue Kutsche mit zwei Apfelschimmeln verkauft wurde.

Ein Spottlied aus der damaligen Zeit hieß: "Man sieht diese Blumen gepriesen von vielen Leuten, die als weise erachtet. Große Krägen, lange Beffchen halten nun so viel von ihr, dass sebst der Dümmste darumlacht." 2

Doch wie erringt der bloße Glaube an etwas, was es nicht gibt, Macht über die Köpfe der Menschen? Ist es das gefühl, nicht widerstehen zu können, wenn alle anderen etwas tun? Ist es die Lust, mehr zu sein als ein vereinzeltes, begrenztes menschliches Atom, wenn man sich der masse hingibt? Die Vermutung, mehr Macht zu haben, indem man seine eigene Stärke zugunsten des Grßeren aufgibt?

Oder ist der Glaube an die Macht, die jemand oder etwas über uns hat, nur eine Illusion, vergleichbar mit der, der wir beim Betrachtem einer Tulpenzwiebel erliegen? Die Vermutung, zu einem Kern zu gelangen, de sich hinter den vielen Schalen doch verbergen müsse? Die Erwartung, bei einer Geschichte übre ein Kloster und den Namen einer Blume müsse es sich um eine Kriminalstory handeln?

Geschrieben 1989.

1) P. Dominikus Johner : Der gregorianische Choral, Stuttgart 1924, S. 8
2) vgl. Tulipomania.

[Der Name der Tulpe 1] Vigil und Laudes
[Der Name der Tulpe 2] Sext
[Der Name der Tulpe 3] Non
[Der Name der Tulpe 4] Vesperale

Der Name der Tulpe - die 5teilige Serie im pdf-Format, 1 Euro, ca. 600 kb

12.07.2003
© BurkS

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