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 Mythos Kreuzberg [Teil IV - Schluss]: Die Ordnung im Dorf Nächstes Thema anzeigen
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burks
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Anmeldungsdatum: 07.10.2002
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BeitragVerfasst am: 21.05.2003, 00:36 Antworten mit ZitatNach oben

Die Ordnung im Dorf

An der alten Markthalle hinter dem Lausitzer Platz sieht man, wie sich Kreuzberg verändert. Immer weniger Stände, die Kleinbourgeoisie gibt auf. Das eingeborene deutsche Publikum bleibt weg oder gehört zum letzten Bodensatz, der die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dadurch vortäuscht, indem er vor den Ständen herumlungert und schon am frühen Morgen nach Bier verlangt. Der türkische Mittelstand bleibt in seinen Läden wie im Ghetto. Man erobert nicht die Räume, die die Deutschen aufgegeben haben.

Vor zwanzig Jahren noch reihte sich in der Oranienstraße eine Proletarier-Kneipe an die andere. "Bierhimmel" hießen die, und am Moritzplatz gab es eine Spelunke, die selbst hartgesottene Taxifahrer nur ungern ansteuerten, weil die Gäste, wenn sie denn das Etablissement verließen, nur noch selten wussten, wohin sie wollten und wo oben und unten war. Das galt auch für die Wiener Strasse. Ich kann mich noch erinnern, als dort, in Sichtweite der alten "Pissrinne" - heute ein archäologisches Denkmal im Görlitzer Park -, die erste Kneipe für die "neuen Mittelschichten" eröffnete, Anfang der achziger Jahre, neben der alteingesessenen und völlig zeitlosen Diskothek "Bronx". Damals war die neue deutsche Welle schick: blaue Neonleuchten, und die Wirtin trug ein Dirndl dazu.

Heute liegt das Ambiente fast aller Lokale im Mainstream. Man gönnt sich edel geförmte Lampen an den Wänden, und das Interieur schreckt diejenigen ab, die es sich nicht leisten können. Nur wirklich Eingeweihte wissen den "Franziskaner" in der Dresdener Strasse zu schätzen, den man manchmal am Geruch eines Pflanzenwirkstoffs erkennt, der bei schönem Wetter aus der Tür wabert. Oder ein paar andere wenige touristenfreie Geheimtipps. Aber natürlich schlägt das Herz des Nachtlebens immer noch am Heinrichplatz....

Die jüngere Generation der Immigranten inszeniert in Kreuzberg das, was heute schon die Banlieues von Paris ausmacht. Die Strassengang ist die einzige Verkehrsform, die zumindest symbolisch die Teilhabe an der Macht verspricht. Die "taz", deren Gebäude in alten Zeitungsviertel Kreuzbergs liegt - genau wie das Springer-Hochhaus -, publizierte zum den Mai-Festspielen 2003 eine wunderbar realistische Reportage von Cem Sey über "gelangweilte türkische Machokids":

"...ein Dutzend kleiner Jungs, nicht älter als zwölf Jahre. Aber den überwiegenden Teil der Gruppe machen 15- bis 16-jährige Teenager aus. Noch sind sie nicht vermummt.Sie gehen strammen Schrittes zum Kottbusser Tor...ihre Körperhaltung spricht allerdings eine andere Sprache: "Wir gehören nicht zu euch!" Zunächst zanken sie sich mit arabischen Jugendlichen.... Bevorzugte Opfer sind punkig aussehende Deutsche. Ein angetrunkener Kreuzberger traut sich Widerworte. Sofort wird auf ihn eingedroschen. Seine Freundin, die ihn aus der Menge herauszuziehen versucht, wird als "Hure" beschimpft und bekommt einen gezielten Faustschlag ins Gesicht.

Um die Ecke muss ein anderer junger Mann als Sandsack für Taekwando-Tritte herhalten. Von ihm lassen sie erst ab, als sie merken, dass er kein Deutscher ist....Ein Lieferwagen muss als Zielscheibe herhalten. Steine fliegen. Die Scheiben des Wagen gehen zu Bruch. Als der Fahrer um sein Leben bangt und mit Vollgas flüchtet, bricht Siegesgeschrei aus.

Ermutigt von ihrem Sieg ziehen die Kids unter den teilnahmslosen Blicken älterer türkischer Männer weiter. ...Der Junge, der die Araber "aufmischen" wollte, sagt, sie hätten "Langeweile". Den türkischen Sänger Haluk Levent, der extra aus der Türkei eingeflogen wurde, um eben diese Jugendlichen mit einem Konzert von den traditionellen Krawallen fernzuhalten - den kennt er nicht.

Die Krawalle dauern schon eine Stunde, ohne dass die gefürchteten "linken Chaoten" in Erscheinung getreten sind. Erst zu diesem Zeitpunkt kommen vereinzelt vermummte deutsche Steinewerfer hinzu. Bald werden es mehr. Nun weht vorne eine riesige Mao-Fahne. Der Fahnenträger möchte unbedingt auf den Bildschirmen gesehen werden. 20 Sekunden Berühmtheit."

Die "teilnahmslosen Blicke älterer türkischer Männer" sagen alles: auch sie haben keinen Einfluss mehr. Wer im Kiez wohnt weiss, dass man bei Problemen mit den "Halbstarken" nicht die Polizei, sondern den "Schlichter" holen sollte, jemanden, den sich die türkischen Familien ausgeguckt haben und der etwas ausrichten kann, wenn die deutsche Obrigkeit nicht mehr weiterkommt. Die Migranten-Gangs und die traditionellen importierten Regeln ersetzen die "Ordnungsmacht" der alternativen Hausbesetzer - auch in diesem Milieu macht man Probleme unter sich aus. Und oft nach dem Prinzip: wer die meisten Leute kennt, hat gewonnen.

Ich kann mich gut daran erinnern, als ich Anfang der achtziger Jahre aus einer Fabriketage im Streit auszog: Die WG war der Meinung, man müsste dort psychotrophen Substanzen in grosser Menge konsumieren und ständig Gestalten "mitschleppen", die sich als Schnorrer entpuppten und klauten wie die Raben. Ein Libanese, den die jungen Damen aus "Mitleid" einquartiert hatte, drohnte, er werde jeden zusammenschlagen, der versuchte, ihn des Feldes zu verweisen. Ich musste daher alte Kontakte aus dem Kiez reaktivieren. Und an einem schönen Samstagmorgen tauchten dreissig Personen auf, die der verdutzten Gesellschaft das halbe Mobiliar unter dem Gesäss wegzog (weil das mir gehörte). Und ein Gruppe kantiger junger Herren, die, wenn es sich um Politik gehandelt hätten, mit Springerstiefeln, Lederjacke und Pali-Tuch aufmarschiert wären, machte dem Libanesen und seinen anwesenden Freunden klar, dass sie in hohem Bogen durch die geschlossene Tür geflogen wären, hätten sie nur aufgemuckt. Leider konnte ich das nicht sehen, weil ich mittlerweile in meiner neuen Wohnung den Sekt kaltstellte...

Alte Kreuzberger Zeiten. Nur manchmal gibt es ein Revival der Erinnerung wie neulich, als eine befreundete WG am Oranienplatz ihr 20jähriges Bestehen feierte und die Gesichter dort auftauchten, die auch vor zwei Jahrzehnten schon dort gewesen waren, die noch die "Volksküche" in der Waldemarstrasse kannten (eine Generation vor den Küchen, die sich "Volx" schrieben und veganische Kost anboten. Nein, wir kochten damals noch essbare Gerichte...) Und plötzlich weiss man, wie man den Mythos dieses Stadtteils am besten beschrieben kann: Kreuzberg ist ein Dorf. Dörfler sind oft unausstehlich, aber im Zweifelsfall findet man immer jemanden, der einem hilft. Und wenn jemand von aussen kommt, halten alle zusammen. Das gilt für die Guten wie die Bösen, und funktioniert ganz ohne Zaubertrank.


www.taz.de/pt/2003/05/03/a0090.nf/text - Cem Sey: Mili tanzt nicht mehr, taz, 03.05.2003
[url]germany.indymedia.org/2003/05/50454.shtml[/url] - Indymedia zum 1. Mai
[url]germany.indymedia.org/2003/05/50384.shtml[/url] - - Indymedia zum 1. Mai, Bildergalerie, daher auch die Bilder oben.

www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?t=1176 - Mythos Kreuzberg [Teil I]: Der unheimliche Ort
www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?t=1194 - Mythos Kreuzberg [Teil II]: Zwei Geschichten aus SO 36
www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?t=1267 - Mythos Kreuzberg [Teil III]: Ruhe - die erste Bürgerpflicht

21.05.2003
© BurkS

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