www.burks.de Foren-Übersicht www.burks.de
Burkhard Schr�ders [Burks] Forum - f�r Kosmopoliten und Kaltduscher
burks.de: Forum für Kosmopoliten und Kaltduscher
burksblog.de: ab 01.01.2008 geht es hier weiter!
privacyfoundation.de: German Privacy Foundation
 FAQ  •  Suchen  •  Mitgliederliste  •  Benutzergruppen   •  Registrieren  •  Profil  •  Einloggen, um private Nachrichten zu lesen  •  Login
 Mythos Kreuzberg [Teil I]: Der unheimliche Ort Nächstes Thema anzeigen
Vorheriges Thema anzeigen
Neues Thema eröffnenNeue Antwort erstellen
Autor Nachricht
burks
Webmaster
Webmaster


Anmeldungsdatum: 07.10.2002
Beiträge: 6757
Wohnort: Berlin-Neukoelln

BeitragVerfasst am: 01.05.2003, 23:09 Antworten mit ZitatNach oben

Mythos Kreuzberg I: Der unheimliche Ort

"Das Kottbusser Tor ist kein Ort, an dem die Leute in Übergangsmänteln herumlaufen, wenn der Winter vorbei ist. Das bisschen Sonne im April legte gleich die Oberarmtätowierungen der Punker frei. Die türkischen Männer hielten nicht mehr frierend das Jackett vor der Brust zusammen und gingen wieder aufrecht. Die Wärme hatte jedes Verhalten gelockert, die Punker kippten die Bierdosen in ihre struppigen Köpfe hinein, bespritzten einander und bewarfen sich mit Schaum." So beginnt die wohl berühmteste Reportage über Berlin-Kreuzberg. Sie ist von Marie-Lusie Scherer und erschien 1988. Die Leiche eines Mädchens aus einer Kleinstadt der süddeutschen Provinz wird irgendwo in Kreuzberg gefunden - der Tod der jungen Frau wird nie aufgeklärt.

Kreuzberg ist ein Mythos, weil es seit jeher das symbolische Gegenteil der Kleinstadtidylle mit Jägerzaun und Gartenzwerg war. Ich wohne dort seit Anfang der 80er Jahre, bis April 2002 in SO 36 - dem alten Postzustellbezirk "Südost 36" - im Gegensatz zum "feineren Teil" "Südwest 61", in den ich vor kurzem umgesiedelt bin. Kreuzberg - das sind für mich persönliche Geschichten, Ereignisse, die für andere unwichtig sein mögen, die aber mein Gefühl bestimmen, Lokalpatriot zu sein und das auch aus politisch-nostalgischen Gründen sein zu müssen.

Kreuzberg1 beginnt für mich am Lausitzer Platz2, genauer: Waldemar- Ecke Pücklerstraße. Dort war in Ende der siebziger Jahre, in einer schmuddeligen Erdgeschosswohnung, das einzige Parteibüro der maostischen KPD. Als frisch nach Berlin gereister Student, der die Action suche, stand ich mit staunenden Augen davor und meinte, hier nähme die Weltrevolution ihren Anfang. Irgendwo, das erfuhr ich später, sollen dort auch Waffen gebunkert worden sein. Dabei ging es nur um das Krankenhaus Bethanien, das geschlossen werden sollte. Ich kann mich an konspirative Versammlungen im ersten Stock der Kneipe "Max und Moritz" in der Oranienstrase erinnern, und dass ich, zusammen mit Michael König, damals einem berühmten Schauspieler der "Schaubühne", unweit des Kottbusser Tores die "Rote Fahne"3 verkauft habe, direkt neben zwei Zeugen Jehovas, die eine andere Art Agitprop meinten der Arbeiterklasse nahebringen zu müssen.

Kreuzberg: das waren damals die Proletarier, die es zu agitieren galt. Straßenschlachten am Mariannenplatz - das waren die Siebziger. Aus dieser Zeit rührt auch meine erste Erinnerung an den Heinrichplatz. Eine "Revolutionärer 1. Mai"-Demo (1976?), dominiert von Hardcore-Maoisten der KPD/ML und KPD. Wer wissen will, wie es damals in Kreuzberg aussah, sehe sich den spannenden Krimi "Einer von uns beiden"4 von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 1973 an. Jürgen Prochnow spielt einen heruntergekommenen Kreuzberger Studenten und agiert vor den ebenso verwahrlosten Mietskasernen nördlich des Kottbusser Tores. Eine zweite empfehlenswerte Quelle: der SFB-Film "Was will Niyazi in der Naunynstraße?"3 aus dem Jahr 1976.

Der zweite Teil der Kreuzberg-Geschichte ist die Hausbesetzerbewegung. Auch die begann hier: Ende der 70er, hinter dem Kottbusser Tor. Meine damalige Freundin hatte mit ihrer peer group ein Haus in der Naunynstrasse besetzt: Kohleöfen, Punkkonzerte im Hinterhof, lustiges Räuber-und-Gendarm-Spiel mit der Staatsmacht, die damals noch nicht wusste, dass alle Dächer einer Straße miteinander verbunden waren und wie man durch die Hinterhöfe von einer Straße zur anderen gelangte. Dieser Zustand dauerte nur wenige Wochen, bis die ersten "Turnschuhbullen" mit detailierteren Stadtplänen auftauchten. Ein ständig besoffener irischer Bauarbeiter, der aus unerklärlichen Gründen das Haus mitbesetzt hatte, zuerst die Tür zur WG zumauerte, um eine abgeschlossene Wohnung zu haben und sich dann mit Tränen in den Augen beschwerte, dass der antiautoritär erzogene Kater der WG seine beiden Meerschweinchen hatte fressen können. Die erste Besetzerkneipe, das "Slainte" in der O-Strasse - jeder trug Lederjacke, Springerstiefel, Pali-Tuch. Wir versuchten damals, nur aus Spaß, in eine Schwulenkneipe gegenüber zu kommen, wurden aber wegen der eindeutigen Uniformierung nicht reingelassen.

Damals gab es auch ein Fussballspiel Deutschland gegen Türkei in Berlin, vor dem das Gerücht die Runde machte, die Nazis würden nach Kreuzberg kommen. Ich fuhr damals mit einer Taxe meines Betriebes Streife rund um das Kottbusser Tor, im Fond drei Punkerinnen, die wiederum unter der Anleitung eines älteren Proletariers angelernt worden waren, wie man Mollis baut - was mich ein wenig gruselte, da der "Lehrer" so bekifft gewesen war, dass er einen Punk nicht von einem Weihnachtsbaum hätte unterscheiden können. Mitten in der Nacht standen Tausende von Kreuzbergern auf den Straßen herum, aber natürlich liess sich kein Nazi sehen.

Ende der Achziger wohne ich direkt am U-Bhf Görlitzer Bahnhof, Skalitzer 33, Fabriketage, Hinterhof, 400 qm, acht Leute, über uns eine dubiose Moschee, deren Besucher so fahrlässig mit der Toilette umgingen, dass der Outfall durch die Decke auf die Kohlen in unserer Küche tropfte. Vorn im Haus ein Türkenpuff, diverse Kleinfirmen. Die Fabriketage, die nur wochentags heizbar waren (ich erinnere mich an ein Weihnachten mit acht Grad Celsius), hatte den Vorteil zweier Eingänge. Im zweiten Hinterhaus wohnte jemand, der in seinem Antiquariat verbotene Schriften feilgeboten hatte. Als die Staatsmacht im Hinterhof auftauchte, um ihn zu verhaften, gab es ein spannendes Katz- und Maus-Spiel, dem wir insofern beiwohnten, als wir diverse Türen zu unterschiedlichen Zeitpunkten schlossen und öffneten und der gesuchte "Verbrecher" immer dort auftauchte, wo man ihn nicht vermutete.

Bolle war gleich nebenan. Am 1. Mai 1987 waren meine peer group und ich auf einer Party in der Bergmannstrasse. Dort tauchten um Mitternacht Leute auf, die mit Lebensmitteln und Getränken gespickt waren. Kurzinfo: Massive Straßenkämpfe am Görlitzer Bahnhof, Plünderungen, das Übliche eben, wie in Brokdorf und auch anderswo, aber noch ein bisschen mehr. Wir stürzten alle hinaus, mit Fahrrad und Auto zurück. Bolle rauchte nur noch vor sich hin, ab dem U-Bahnhof Prinzenstraße glich die Fahrt einer Querfeldein-Rally. Die Straßen waren übersät mit Steinen, überall Reste von Barrikaden. Auf der Kreuzung direkt vor meiner Haustür eine dicht gedrängte ausgelassene Menschenmenge, die mit allem, was herumlag, auf die gusseisernen Pfeiler der Hochbahn einschlug. Irgendwann in den nächsten Tagen suche das Theater "Schaubühne" per Zeitungsanzeige nach jemandem, der die Geräuschkulisse aufgenommen hatte und bot eine hohe Geldsumme dafür. Man spielte gerade "Trommeln in der Nacht" von Bertolt Brecht.

Heute weiss man, dass Bolle damals von einem psychisch kranken Pyromanen6 angesteckt worden ist. Diese Nacht der Nächte war ein historisches und politisches Fanal: Zum ersten Mal seit den Barrikadenkämpfen von 18487 hatte es die Bevölkerung geschafft, die Staatsmacht aus einem Stadtteil zu vertreiben - mit "militärischen" Mitteln. Die Polizei traute sich erst am Morgen des nächsten Tages mit schwerem Gerät zurück. Warum wer randalierte, war unwichtig. Das Gefühl allein zählte, es "denen da oben", repräsentiert durch die Polizei, gezeigt zu haben. Und die Staatsmacht schien auch zu ahnen, dass es um Symbolik ging. Zuerst rückten die Fahrzeuge der Stadtreinigung in Kreuzberg ein, die die Zeichen und Zeugnisse der Niederlage gegen die widerborstigen BürgerInnen beseitigt hatten, bevor die Pressemeute anrückte.

In den nächsten Jahren begann sich das Spektakel zu verselbständigen, als symbolischen Ritual wie die Segeberger Karl May-Festspiele. Wir Kreuzberger schauten mehr oder minder fassungslos auf die angereisten Jungschwaben, die sich zuhause nicht trauen, die Sau rauszulassen, aber am Heinrichplatz zum 1. Mai plötzlich den sinnfreien Aufstand probten. Man kam, warf Steine, holte sich die Jahresration Tränengas ab und reiste wieder ab. Ich kann mich an einen 1. Mai erinnern, an dem wir in unserer Haustür standen und Jäger und Gejagte im Minutentakt von rechts nach links und umgekehrt an uns vorbeisausten. Wenn wir jemanden kannten, liessen wir ihn hinein. Die normalen Omas, die es noch in unserem Haus gab, boten uns Schutz. Später nicht mehr, weil die Polizei auf alles einprügelte, was sich bewegte. Deshalb war es für uns ein inneres Laubhüttenfest, dass die Ordnungskräfte auch mal den Polizeipräsidenten in Zivil kräftig verdroschen, weil der die Angelegenheit beobachten wollte, aber das richtige Passwort nicht wusste. Wir haben stundenlang gelacht.

Irgendwo in den peruanischen Anden, zwischen Cuzco und Ollantaytambo, sassen meine Freundin und ich in einer finsteren Spelunke. Ein US-amerikanisches Pärchen, Hardcore-Globetrotter wie wir, gesellte sich zu uns. Man erkannte sich am Outfit und nahm erfreut zur Kenntnis, dass die anderen weder Lehrer noch ähnliche Touristen nach dem Motto "Südamerika in drei Wochen" waren. Ich kann mich genau erinnern, wie die Unterhaltung begann - es war das Jahr 1984: Woher kommt ihr? "New York, Lower East Side." Alles klar: Künsterviertel, Bohème, Weltläufigkeit, freaks. Nicht zu toppen. Wir hatten zwar gerade acht Wochen im Pando-Dschungel verbracht und uns mit Kautschuksammlern und Goldsuchern herumgetrieben, aber das machte kaum Eindruck. Doch dann: "Where are you from?". Börlin, Kreuzberg. Oh, how interesting! Erstauntes Hochziehen der Augenbrauen auf der anderen Seite, Respekt. Man war hip, stand in einer Reihe mit New York, mit den riots in Brixton, London8, und anderen Städten der Welt.

Das war die endgültige Befreiung aus der deutschen Provinz. Provinz: das waren Hamburg, München, Frankfurt. Die Globalisierung kam erst viel später. Kreuzberg: das ist der Ort, wo der Weltgeist kurzzeitig Station macht, wenn er - selten genug - in Berlin verweilt. Wenn man die Geschichte und Geschichten kennt, die die Bordsteine und das Pflaster seit 100 Jahren ausatmen, ist Kreuzberg der einzige Ort Deutschlands, in dem man wohnen kann, ohne permanent daran zu denken, wohin auszuwandern wäre.

1) www.chahed.de/Germany/Kreuzbergtour.html
2) www.emmaus.de/lauseplatz_daten.html
3) www.trend.partisan.net/trd0499/t280499.html
4) www.moviemaster.de/archiv/film/film.php?nr=544
5)www.tu-berlin.de/fb2/fadi/hr/Dresden.htm
6) [url]archiv.tagesspiegel.de/archiv/30.04.2003/547359.asp[/url]
7)www.kulmbach.net/~MGF-Gymnasium/bilderdaten/Revolution1848/ und www.zum.de/Faecher/G/BW/Landeskunde/rhein/geschichte/1848/berlin02.htm
8)[url]ews.bbc.co.uk/1/hi/uk/544517.stm[/url]
Die Abbildung Mitte zeigt nicht Kreuzberg, sondern Berlin Mitte nördlich des Halleschen Tores - die Barrikaden in den Märzkämpfen 1848

Teil II
www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?t=1194
Teil III www.burks.de/forum/phpBB2/viewtopic.php?p=4627#4627

Diese Kolumne steht auch auf der Website Kreuzbergs: www.kreuzberg.de/index.php?id=480
02.05.2003
© BurkS

Benutzer-Profile anzeigenPrivate Nachricht sendenE-Mail sendenWebsite dieses Benutzers besuchen
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:      
Neues Thema eröffnenNeue Antwort erstellen


 Gehe zu:   



Nächstes Thema anzeigen
Vorheriges Thema anzeigen
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.


Powered by phpBB © 2001, 2002 phpBB Group :: FI Theme :: Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde