Früchte des Zorn oder: Hooverville ist überall

steinbeck„Hast du schon mal ’nen Polizisten gesehen, der keinen fetten Hintern hat? Und sie wackeln damit, daß ihre Revolver auf und ab hüpfen. Mutter“, sagte er, „wenn’s das Gesetz wär‘, das uns was will, dann würde ich mir’s gefallen lassen. Aber ’s ist nicht das Gesetz. Sie hauen auf uns ein und wollen uns die Seele aus dem Leib hauen. Sie wollen, daß wir kriechen und uns krümmen, wie’n geschlagener Hund. Sie wollen uns kaputtmachen. Und, mein Gott, Mutter, da kommt ’ne Zeit, wo einer nur noch seine Anständigkeit behalten kann, wenn er so ’nem Bullen eine in die Fresse schlägt. Sie haben’s auf unsre Anständigkeit abgesehn.“

Kann man sich vorstellen, dass ein deutscher Schriftsteller so etwas schriebe? Dass ein deutscher Verlag so etwas druckte? Man kann nur anständig bleiben, wenn man einem Bullen in die Fresse schlägt? Nein, das ist undenkbar. So etwas ließe die freiwillige politische Selbstzensur hierzulande nicht durchgehen.

Es finge schon viel früher an: Deutsche Schriftsteller beschäftigen sich zwar viel mit den emotionalen Befindlichkeiten der alten und neuen Mittelschichten, die Arbeiterklasse kommt aber gar nicht vor, und schon gar nicht die Frage, ob der Kapitalismus als System fragwürdig sei und ob es eine Alternative gebe. Das zu thematisieren ist nicht erlaubt.

Ich empfehle heute also einen ausländischen (!) Schriftseller und Nobelpreisträger und eines der besten Bücher, das jemals geschrieben wurde und das ein mehrsemestriges Studium der Geschichte der USA ersetzt: John Steinbecks Grapes of Wrath (deutsch: „Früchte des Zorns„, erschienen 1939).

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Der deutsche Wikipedia-Eintrag zum Roman ist übrigens grober Unfug und lässt völlig außer acht, dass es nicht um „Menschlichkeit“ an sich geht, sondern um eine ätzende Kritik am kapitalistischen System.

Das englische Wikipedia schreibt: Set during the Great Depression, the novel focuses on the Joads, a poor family of tenant farmers driven from their Oklahoma home by drought, economic hardship, agricultural industry changes and bank foreclosures forcing tenant farmers out of work. Due to their nearly hopeless situation, and in part because they were trapped in the Dust Bowl, the Joads set out for California. Along with thousands of other „Okies“, they sought jobs, land, dignity, and a future. (…)

Part of its impact stemmed from its passionate depiction of the plight of the poor, and in fact, many of Steinbeck’s contemporaries attacked his social and political views. Bryan Cordyack writes, „Steinbeck was attacked as a propagandist and a socialist from both the left and the right of the political spectrum. The most fervent of these attacks came from the Associated Farmers of California; they were displeased with the book’s depiction of California farmers‘ attitudes and conduct toward the migrants. They denounced the book as a ‚pack of lies‘ and labeled it ‚communist propaganda‘. Some accused Steinbeck of exaggerating camp conditions to make a political point. Steinbeck had visited the camps well before publication of the novel and argued their inhumane nature destroyed the settlers‘ spirit.

Flüchtlingscamps. (Im Buch nennen die Fküchtlinge alle derartigen Camps „Hooverville„). Das haben wir doch schon mal gehört? Armutsflüchtlinge! Nur dass die im Buch von Oklahoma nach Kalifornien ziehen, somit keine „Ausländer“ sind; heute ziehen die Armutsflüchtlinge von Südosteuropa und Afrika in die reichen Länder. „Früchte des Zorns“ ist ein hochaktuelles Buch: Man sieht, dass sich fast gar nichts geändert hat, und dass auch die Leute, die Bücher lesen, daraus wenig lernen. Alles kommunistische Propaganda.

Manche Bücher kann ich nicht in einem Zug durchlesen, obwohl ich rasend schnell lese. „Früchte des Zorns“ regt mich so auf (obwohl ich es schon kenne), dass ich das Buch zwischendurch eine Weile weglegen muss, um nachzudenken.

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Der Roman beginnt in Sallisaw, Oklahoma, im sogenannten Dust Bowl. (Ich übersetze den Wikipedia-Eintrag in lesbares Deutsch:) Die Bauern hatten das Präriegras gerodet, um vornehmlich Weizen anzubauen. Die tiefen Wurzeln des Grases, dessen Halme den Staub auffingen, hatten die oberen Bodenschichten vor Erosion bewahrt. Jetzt setzte eine massive Erosion ein, jahrelange Dürren vernichteten die Ernten. Staubstürme wehten die Menschen in ihren Häusern ein. Viele Farmer mussten ihren Äcker verlassen, als sie kein Geld mehr hatten. Sie suchten oft in anderen Regionen der USA nach Arbeit.

Genauso sieht es heute in der Sahel-Zone in Afrika aus – mit ähnlichen Ursachen und exakt den gleichen Folgen.

Ein Plot sähe heute also so aus: Der Roman spielt während der so genannten „Finanzkrise“ in den USA und Europa ab 2007. Das Buch beschreibt die Abeekus, eine arme Bauernfamilie, die von ihren Feldern in Libyen [wahlweise: Syrien, Irak] vertrieben wurde – durch Dürre und die Folgen des von den imperialistische Mächten geschürten Bürgerkrieges. Wegen ihrer fast ausweglosen Situation flüchtet die Familie nach Deutschland, zusammen mit tausenden anderer Afrikanern [wahlweise: Südosteuropäer, Syrer, Iraker]. Sie suchen eine neue Heimat, Arbeit, Würde, und eine Zukunft.

Was folgt, ist bekannt. Lest „Früchte des Zorn“ selbst – oder noch besser das englische Original.

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Kommentare

6 Kommentare zu “Früchte des Zorn oder: Hooverville ist überall”

  1. lepus am Juli 13th, 2014 7:22 pm

    In der Sahelzone sieht es heute vollkommen anders aus als im Dust Bowl. Ähnliche Ursachen Fehlanzeige. Exakt gleiche Folgen gibt es erst recht nicht. http://www.uni-bayreuth.de/pressemitteilungen-html/121-Sahelzone/index.html
    Auf jeden Fall muss der altböse Kapitalismus wieder dran glauben. Kann man sich immer irgendwie zurechtbiegen. Und täglich grüßt das Murmeltier. Wie haben eigentlich die Kalifornier die Krise gelöst? Indem Sie die „Systemfrage“ gestellt haben? Das wäre ihnen nicht im Traum eingefallen.
    Übrigens auch Steinbeck nicht!
    Die „Früchte des Zorns“ (mit „s“) sind jedenfalls kein Plädoyer für den Kommunismus – eher für die Familie und die Selbstorganisation gegen den Etatismus.
    Lies einfach mal Steinbecks „Straße der Ölsardinen“, dann brauchst Du Dich nicht so über nicht vorhandene Parallelen aufzuregen.

  2. Tom am Juli 13th, 2014 8:23 pm

    Danke! Leseempfehlung vor Jahrzehnten befolgt, ich fühlte mich ähnlich. Noch einiges früher angesiedelt: The Jungle von Upton Sinclair
    https://en.wikipedia.org/wiki/The_Jungle
    Nicht weniger empfehlenswert!

  3. Eppner am Juli 13th, 2014 10:55 pm

    Hab es Ende der 80ziger gelesen. Es wurde auch in der DDR verlegt. Hatte sicher auch Propaganda als Grund. Tut der politischen Bildung aber keinen Abbruch. An Lepus: die leichte Besserung der Verhältnisse waren wohl wirtschaftspolitischen Entscheidungen der damaligen US-Regierung geschuldet, mit deutlicher Erhöhung der öffentlichen Ausgaben in z.B. Infrastruktur. Und dann war ja auch der Eintritt USA in WK II und, richtig, das Rüstungsgeschäft boomte. Nein, Herr Schröder hat es treffend auf die heutige Situation adaptiert. Besserung wird es nur mit Systemwechsel geben. Oder Untergang. Schau Dir doch die Psychopathen unserer wirt.+polit.+geistigen Elite an. Sie grölen ja förmlich nach Krieg. Dazu passend ein Beitrag von Georg Schramm „Krieg Reich gegen Arm“: http://www.net-news-express.de/index.php?page=player&v=-ZwsmVthQUs
    Traurig nur, das die meisten unter gestörter Realitätswahrnehmung leiden, auch in meinem Umfeld. Bei jeder Wahl werden diese „Eliten“ wiedergewählt, entgegen ihrer eigenen Interessen. Heute muss ich rückblickend sagen: Zum Glück bin ich in der DDR großgeworden und hatte Staatsbürgekunde, die Geschichte der Arbeiterbewegung und den Schwarzen Kanal. Und Klasse Deutschlehrer, was Literaturauswahl betrifft.

  4. David am Juli 14th, 2014 7:19 am

    Sehe ich nicht so, hat nichts mit Kommunismus zu tun. Schade, daß sich Steinbeck nicht mehr wehren kann.

    Schlimm finde ich den Vergleich mit der „armen Bauernfamilie, die von ihren Feldern in Libyen [wahlweise: Syrien, Irak] vertrieben wurde – durch Dürre und die Folgen des von den imperialistische Mächten geschürten Bürgerkrieges“. Den hier entscheidenden Faktor – zweifellos neben dem Zündeln von außen – vergessen Sie: Es ist der Islam, der zu solchen Exzessen führt, Stichwort arabischer Frühling. Die wesentliche Krisen heute habe alle den Islam als Ursache.

    Und das ist ein wesentlicher Unterschied zu Steinbeck, der Ihnen entgeht und/oder den Sie nicht wahrhaben wollen.

  5. admin am Juli 14th, 2014 12:47 pm

    Der Islam ist ein Resultat, keine Ursache. Guckst du zB hier http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/unruhen/2936518/syriens-herrschaftssystem.story

    Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, nicht von Religionskriegen.

  6. Interstellarer Bullshit : Burks' Blog am Dezember 31st, 2014 6:55 pm

    […] gibt es in den kapitalistischen USA noch Kleinfarmer?), die ruiniert werden? Komplett geklaut von John Steinbeck und “Früchte des Zorns” (erschienen 1939), der aber, was die soziale Frage angeht, […]

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