Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt

nibelungenlied

Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dem bei „Nibelungenlied“ und „Das Kapital“ von Karl Marx gleichzeitig etwas einfällt. Da die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser dieses kleinen und gesellschaftlich irrlevanten Blogs vermutlich zu einer bildungsbürgerlichen Elite gehören, die die Hexameter Homers und das Geschwurbel Hegels auswendig zitieren können und gleichzeitig bei „Python“ nicht nur Schlangen assoziieren, die das Hildebrandslied beim Duschen summen und die wissen, was das Zahlkörpersieb mit asymmetrischer Kryptografie zu tun hat, kann ich heute die intellektuelle Schraube noch weiter anziehen. Nein, die allgemeine Relativitätstheorie kommt nicht vor. (Noch jemand hier?)

Ich habe in den letzten Tagen den ersten Band des Marxschen „Kapital“ durchgeblättert, was ich seit den 70-er Jahren so ausführlich nicht mehr getan hatte. Man fragt sich natürlich, warum man sich das antun sollte und warum Marx mehr als hundert Seiten braucht, um den Begriff „Ware“ zu analysieren, anstatt das auf Wikipedia-Niveau mit ein paar Sätzen abzuhandeln. Nur damit das klar ist: Wenn man mit der Marxschen Theorie nicht hinreichend und einleuchtend erklären könnte, was es mit der so genannten „Krise“ in Griechenland auf sich hat, oder wenn man den tendenziellen Fall der Profitrate nur gebrauchen könnte, um bei einer Party von „Volks“wirtschaftlern die Gäste zu erschrecken, dann könnten wir uns das auch ersparen und Marx im Ordner „Alles, was die Welt dringend nicht braucht“ abheften, gleich neben Adalbert Stifter, dem Vordenker des Lebensgefühls der Grünen, Anaximander und dem Vaterunser auf Prägermanisch.

Das Publikum stritt hier herum, was „Arbeit“ und „gesellschaftlich“ bedeute. Im Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, 12. Jh.) zum Beispiel ist von „grôzer arebeit“ die Rede: Das Wort hat aber mitnichten mit dem etwas zu tun, was wir darunter verstehen. Im Althochdeutschen, das ungefähr zur Zeit Karl des Großen gesprochen wurde, bedeutet „Arbeit“ nur „Mühsal“ oder „Beschwernis“. „Arbeit“ als ein Tun, das Werte schafft, ist bis zum hohen Mittelalter in der gesamten Literatur unbekannt. Im Neblungenlied steht es als Synonym für „Kampf“.

Marx arbeitet (sic!) sich ja deswegen am Wort „Arbeit“ ab, weil diese in der Zeit vor dem entwickeltem Kapitalismus anders organisisiert war. Ein abstrakter Begriff „Arbeit“ im Sinne von „Wertschöpfung“ war im Sinne des Wortes undenkbar, genausowenig wie die Himmelsmechanik Isaac Newtons im antiken Griechenland hätte erdacht werden können – die alten Griechen hatten zwar von Mechanik Ahnung, aber für eine wissenschaftliche Theorie der Astronomie waren zu ihrer Zeit die Produktivkräfte und die Technik noch nicht genug entwickelt. Denken und abstrakte Begriffe fallen eben nicht einfach vom Himmel. Ökonomie ist eine Wissenschaft, und für die gilt das auch. Marx schreibt:

Versetzen wir uns nun (…)in das finstre europäische Mittelalter. Statt des unabhängigen Mannes finden wir hier jedermann abhängig – Leibeigne und Grundherrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären. Aber eben weil persönliche Abhängigkeitsverhältnisse die gegebne gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt anzunehmen. Sie gehn als Naturaldienste und Naturalleistungen in das gesellschaftliche Getriebe ein. Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form. Die Fronarbeit ist ebensogut durch die Zeit gemessen wie die Waren produzierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, daß es ein bestimmtes Quantum seiner persönlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt. Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen. Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier gegenübertreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte.

Wir sind also immer noch beim „Warenfetisch“. Lauschen wir Stefan Niemann und der „Tagesschau“ vom 29.12.2012, der als aktuelles pädagogisch wertvolles Beispiel dienen kann:
Spätestens dann müssen auch die republikanischen Abgeordneten öffentlich bekennen, was ihnen am Ende wichtiger ist: ihre Parteilinie oder die Ängste des amerikanischen Volkes oder die Nervösität der Märkte.

Die Nervösität der Märkte?! Im Marxschen „Kapital“ heisst es dazu: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“

Das Geld, die Waren, das Kapital, der „Markt“ erscheinen als beseelte Dinge, die eigenständig agieren – also wie ein Fetisch, dem Eigenschaften zugesprochen werden, die das Ding in Wahrheit nicht hat. Friedrich Engels nannte das „ein Naturgesetz, das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht.“ Marx: „Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.“

(Wer sich das im Detail antun will, lese die Anmerkung 32, in der Marx die Mängel und Beschränktheit der damaligen Theorie der Ökonomie referiert. Die heutige „Volks“wirtschaftslehre verzichtet ganz auf die Anaylse und „argumentiert“ nur noch auf auf dem Niveau des gesunden Volskempfindens – mit dementsprechenden Ergebnissen.)

Jetzt wird es aber Zeit, dass wir endlich zu(m) Geld kommen. In Kürze mehr in diesem Theater.

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Kommentare

7 Kommentare zu “Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt”

  1. ... der Trittbrettschreiber am Januar 2nd, 2013 4:29 pm
  2. Serdar am Januar 2nd, 2013 7:04 pm

    Warst du nicht mal Tutor für dieses Thema in der Uni? Zusammen mit meinem früheren Mediävist Prof. Dr. Peter Czerwinski?

  3. ninjaturkey am Januar 2nd, 2013 7:20 pm

    »…Nein, die allgemeine Relativitätstheorie kommt nicht vor. (Noch jemand hier?)…«

    Ja, ich. Ein gutes Neues wünsch ich Dir.
    Mangels des „richtigen“ Studienfachs scheint mir die Massegewinnung durch das Higgs-Feld schlüssiger als die Wechselwirkungen der Wertschöpfungsketten in den Märkten.
    Durch Deine Beiträge lichten sich aber langsam die bisher verinnerlichten Nebel des modernen Finanzsprechs und knirschend beginne ich auch in diesem Segment selbst zu denken.
    Danke dafür und weiter so.

  4. admin am Januar 2nd, 2013 7:58 pm

    Sedar: ja, einige Jahre sogar.

  5. Tom am Januar 2nd, 2013 9:13 pm

    Ich aunoch da, danke soweit!

  6. baerchenbrueck am Januar 2nd, 2013 11:46 pm

    „Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dem bei “Nibelungenlied” und “Das Kapital” von Karl Marx gleichzeitig etwas einfällt.“

    Ich tippe mal auf 29 neben uns beiden.

  7. Kritik der Politischen Ökonomie, revisited : Burks' Blog am Mai 10th, 2014 12:52 am

    […] “Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt” (02.01.2013): Über das “Nibelungenlied”, das “Kapital” und den Begriff der […]

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