Revolution in Stuttgart?

s21

Ich habe gerade in zahlreichen historischen Schmökern nachgesehen, wann in die Stuttgart die letzte Revolution stattgefunden hat, um das Gezerre um den aktuellen Abriss des Hauptbahnhofs historisch einordnen zu können.

Im Bauernkrieg zogen die württembergischen Aufständischen nur durch, es ist nicht bekannt, ob die Stuttgarter sypathisierten oder sich in ihren Häusern verkrochen.

1849 zog sich das Rumpfparlament nach Stuttgart zurück: „Das Stuttgarter Rumpfparlament war im Rahmen der liberalen und nationalstaatlichen Märzrevolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes der letzte Versuch, die verbliebenen parlamentarisch-demokratischen Strukturen dieser Revolution, die im Frühsommer 1849 kurz vor ihrer endgültigen Niederschlagung stand, noch zu retten. (…) bereute die württembergische Regierung die nicht mit ihr abgestimmte Einladung an das Parlament schon nach wenigen Tagen, insbesondere da sich das Rumpfparlament und die Reichsregentschaft immer mehr radikalisierten und zur Steuerverweigerung sowie zum militärischen Widerstand gegen die Nichtanerkennung der Verfassung durch die Bildung eines Reichsheers aufriefen. (…) Am 18. Juni besetzte württembergisches Militär vor Sitzungsbeginn den Tagungsort, das Fritz’sche Reithaus. Der von den noch 99 in Stuttgart befindlichen Abgeordneten daraufhin improvisierte Demonstrationszug in Richtung des Sitzungssaales wurde durch das Militär schnell und ohne Blutvergießen aufgelöst…“

1907 tagte der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, Clara Zetkin wohnte seit 1903 in Stuttgart-Sillenbuch.

In den siebziger Jahren des 20 Jahrhunderts agierte in Stuttgart die maoistischen Politsekte Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands (KABD), die wir damals spaßeshalber „Spätzle-KPD“ nannten.

Soweit zur Geschichte. Mehr Revolution habe ich in Stuttgart nicht gefunden. Natürlich handelt es sich bei den jüngsten relativ harmlosen Auseinandersetzungen ohnehin weder um eine Revolution noch um eine, die es werden will. Im Vergleich zu den Demonstrationen etwa in Brokdorf vor 30 Jahren sind ein paar kleine Wasserwerferchen harmlos und Spielkram.

Laut Spiegel Offline sagte der unvermeindliche Rainer Wendt (das ist der mit den virtuellen Streifenfahrten im Internet), Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft: „Polizeiliche Einsatzmittel müssen Waffen sein, die weh tun, nur dann wirken sie.“ Richtig. Die Gewalt, die vom Staat ausgeht, radikalisiert und politisiert die Schüler und Jugendlichen in Stuttgart. Wer vorher noch im Stile einen protestantischen Pfarrers naiv „keine Gewalt“ auf seine Fahnen geschrieben hatte, wird jetzt eines Besseren belehrt werden – und das ist auch gut so.

Aber mal im Ernst: Ich habe gar keine Meinung, wer Recht hat oder nicht. Mir ist der Stuttgarter Hauptbahnhof wurscht. Natürlich werden dort Steuergelder in großem Maße zum Fenster hinausgeworfen, und nötig ist der neue Bahnhof gewiss nicht. Mich interessierte eigentlich nur, wer welche Bestechungsgelder genommen hat und wer am meisten finanziell profitiert. Sinnlose Geldverschwendung ist die Regel, nicht die Ausnahme. Wer erinnert sich noch an den Rhein-Main-Donau-Kanal, den der damalige Bundesverkehrsminister Volker Hauff „das unsinnigste Bauwerk seit dem Turmbau von Babel“ nannte und den die CDU trotzdem bauen ließ?

Es geht auch nicht darum, die Wahrheit über das herauszufinden, was in den letzten Tagen geschehen ist. Wahrheit ist relativ. Jeder wird aus den Fernsehbildern das herauslesen, was das eigene politische Weltbild bestätigt. Der Innenminister Mappus handelt konsequent. Wissen.de schreibt ganz richtig: „Es wird deutlich, dass die Union ihre konservative Stammwählerschaft umgarnt, um verloren gegangenes Terrain zurückzuerobern. Die seit 1953 bestehende Vorherrschaft der Südwest-CDU ist akut bedroht. Laut jüngsten Umfragen hat die christlich-liberale Koalition keine Mehrheit mehr im Südwesten. Stattdessen kann sich ein grün-rotes Bündnis, Hoffnungen auf den Sieg im März 2011 machen. (…) Die Parteistrategen in der CDU-Zentrale haben sich auf die Grünen als Hauptgegner eingeschossen.“

Und ein sehr schönes Zitat fasst alles zusammen: „Auch der Chef der Landtagsfraktion, Peter Hauk (CDU), weiß, wo der Feind steht: ‚Ich wehre mich dagegen, mich unter das Diktat von Altkommunisten und Altlinken zu stellen, die in den letzten Wochen die Rädelsführer des Protestes waren‘, sagt er. Da gehe eine Saat auf, ‚die die Grünen mitgelegt haben‘.“

Solche Zitat wenden sich nicht an die, die in Stuttgart demonstrieren. Das ist eine irrelevante Minderheit, die für die CDU sowieso verloren ist. Nein, es geht Mappus und Konsorten darum, die rechtskonservative Stammwählerschaft der CDU zu befriedigen und zu reaktivieren. Die „Mitte“ sind in Stuttgart die Grünen, und mit Wasserwerfern und Reizgas kann man dieses Wählerpotential der gefühlten Mitte spalten. Der Protest wird sich ja ohnehin bald legen; über Wochen hält das Bürgertum das nicht durch, zumal es kein ernst zunehmendes revolutionäres Ziel gibt.

Auch N-TV kommentiert überraschend klug: „Es kann nur eine sinnvolle Erklärung geben: Die Landesregierung will die Debatte um Stuttgart 21 in einen gewaltsamen Konflikt überführen und fährt bewusst eine Strategie der Eskalation. Wenn erstmal die Demonstranten Molotow-Cocktails werfen und Vermummte Straßenbarrikaden basteln – dann ist die Schwarz-Weiß-Welt wieder in Ordnung. Und dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass die braven Stuttgarter Bürger wieder zu Hause bleiben und hinnehmen, was ihnen die Obrigkeit vorgesetzt hat. Früher bauten die Herrscher Schlösser, um sich zu feiern. Heute machen sie die Schlossgärten wieder platt und bauen Bahnhöfe.“

Wer sich also über einen angeblich „überzogenen“ Einsatz der Polizei aufregt, ist nicht nur reichlich naiv, sondern verkennt auch, dass man immer fragen muss: cui bono? Wem nützt das? Wenn sich eine kleine Minderheit der Protestierenden radikalisiert und eine härtere Gangart fährt, kann sich die Polizeileitung entspannt zurücklehnen und der Politik signalisieren: Auftrag ausgeführt! Dann sind die Wasserwerfer a posteriori gerechtfertigt worden. Und wenn diese Minderheit weiterhin friedlich beliebt, ist das Ergebnis identisch. Es passiert gar nichts, und der neue Bahnhof wird gebaut werden.

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Kommentare

9 Kommentare zu “Revolution in Stuttgart?”

  1. Aussteiger am Oktober 2nd, 2010 6:26 pm

    … wer am meisten finanziell profitiert

    dazu ein guter Einstieg:

    http://stuttgart-21-kartell.org/prolog

  2. Aussteiger am Oktober 2nd, 2010 6:34 pm

    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-68785415.html

    Weitere großzügige Gaben verschärfen unterdessen den Eindruck der Käuflichkeit. 70 000 Euro überwies zum Beispiel der Baden-Württemberger Tunnelbau-Unternehmer Martin Herrenknecht rechtzeitig zum Bundestagswahlkampf an die CDU. Der Produzent von Großbohrmaschinen (Slogan: „Wer mit uns bohrt, kommt weiter“) hofft auf Aufträge, wenn der Stuttgarter Hauptbahnhof komplett unter die Erde verlegt wird.

    „Beziehungen sind sehr wichtig, vor allem politische“, sagte der Unternehmer vor kurzem, der schon mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder durch China reiste. Bei einer Zeitungsumfrage zum Jahresende wünschte er sich für 2010 die Schlagzeile: „Herrenknecht-Technik baut bei Stuttgart 21 mit.“ Dass seine CDU-Spende im Zusammenhang mit konkreten Projekten stehen könnte, hält Herrenknecht für eine „realitätsfremde Annahme“.

  3. bolo am Oktober 2nd, 2010 7:18 pm

    Mai 68 light, minus Studenten und Streik und Besetzungen?

    Wikipedia: Mai 68

    oder doch eher Wackersdorf?

    Wikipedia: Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf

  4. Mappüsle am Oktober 2nd, 2010 8:25 pm

    !Horch a mol her, Altlinke.. etc…! Do hätt i an Vorschlag in aller Güte

    Ma bauet des Bahnhöfle und taufet ihn Clara-Zetkin- Banhof.

  5. Michael am Oktober 2nd, 2010 9:53 pm

    Das erwähnte Spaltungskonzept kann nach hinten losgehen. Natürlich versucht man es einmal mehr mit der alles-linke-Chaoten-Rhetorik – das ist halt der übliche Beißreflex bei der CxU (und teilw. auch den Sozies) bei Gegenwind in Ermangelung von Argumenten. Die können nicht anders. Nur weis jeder, der mit den S21-Protesten auch nur ein winziges bisschen zu tun hat, daß das blanker Unsinn ist. Dazu geht das Spektrum der Protestbewegung viel zu weit ins bürgerliche Lager hinein. Daß die Grünen inzwischen sehr bürgerlich (und damit für Linke weitgehend unwählbar) geworden sind, ist hier ein echtes Feature: Denn damit sind sie eine echte Wahlalternative für enttäuschte ex-CDU-Wähler. Das hat sich schon bei der letzten Kommunalwahl deutlich gezeigt. Die Großdemonstration gestern – also ein Tag nach der Küppelaktion – ist ebenfalls friedlich verlaufen.

    Es geht hier mE mittlerweile auch um mehr, als „nur“ eine milliardenschwere Verschlimmbesserung der Innenstadt, sondern auch um Unmut gegenüber selbstherrlichem, korruptem und arrogantem Politikstil wie er zwangsläufig eintritt, wenn eine Partei zu lang an der Macht ist – auch dieser Unmut beschränkt sich nicht mehr aufs linke oder grüne Spektrum. Dreiste Auftritte wie jetzt der von Herrn Rech verstärken das.

    m

  6. Ritinardo am Oktober 3rd, 2010 10:00 am

    Natürlich ist Wahrheit relativ. Aber darauf zu schließen keine Aufklärung zu suchen wäre fatal! Wenn die CDU sagt „Die Aggression ging von den Demonstranten aus“, dann wird hier die Wahrheit einmal um 180 Grad gedreht. Das ist die Göbbels-Strategie, der sagte „Je größer die Lüge und je unwahrscheinlicher die Lüge – desto eher wird sie geglaubt“. Das wird m.E. noch viel zu wenig beachtet. Natürlich ist sowas durchaus an der Tagesordnung – aber wir reden ja gerade über Stuttgart 21. Wenn es keine Videos geben wird, die Gewalt von Demonstranten in einem Ausmaß zeigen, dass die obige Aussage rechtfertigt, dann fällt der Landesregierung JEDE Begründung des Einsatzes weg und somit auch jede Grundlage weiter im Amt zu bleiben. Dann wurde der Beweis erbracht das sie wissentlich und willentlich gelogen und denunziert haben.

  7. Stuttgart 21 | volkerdaschner.de am Oktober 3rd, 2010 1:53 pm

    […] unsinnigste Bauwerk seit dem Turmbau von Babel” nannte und den die CDU trotzdem bauen ließ? http://www.burks.de Wer sich also über einen angeblich “überzogenen” Einsatz der Polizei aufregt, ist nicht nur […]

  8. S21, einige kühle Bemerkungen « Kritik und Kunst am Oktober 3rd, 2010 11:03 pm

    […] hats wieder mal perfekt gegegn den Strich gelesen. Auch feynsinn erdet Revolte-Träume. Da wär ich dann jetzt gerne im Bunde der Dritte. By […]

  9. finkeldey am Oktober 4th, 2010 12:42 am

    Zur Ergänzung:

    http://kritikundkunst.wordpress.com/2010/10/03/s21-einige-kuhle-bemerkungen/

    lg

    ps: wenn Du mich weiterhin verlinken magst, dann aktualisiere doch mal. Die features bei blog.de waren unterirdisch.

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