So zynisch und dumm ist stern.de

Ein Tweet Maik Söhlers machte mich darauf aufmerksam: „Der dümmste Text seit 100 Jahren„. Ja, man kann dem polemisch zustimmen. Es geht um das beliebte und medienkompatible Thema „Amoklauf“ (in Lörrach), wo das herkommt und wo das alles enden wird.

Anlass ist ebenfalls ein Tweet: „Die Amokläuferin von #Lörrach: heterosexuell, verheiratet, katholisch, Juristin. #Bosbach weiß noch nicht so richtig, was er verbieten will.“

Felix Disselhoff („Multimedia-Journalist, 26“) verbreitet auf stern.de eine dumpfe Mischung aus purer Faktenfreiheit, suggestiver Meinung und moraltheologischen Gefasel. Das kann man belegen: Disselhoff hat noch nicht einmal die Grundlagen des Internet begriffen und verwechselt das „Web“ mit dem Internet. Was soll das heißen: „gibt sich das Web recht zynisch“? Was ist mit der Usenet-Gemeinde und der IRC-Gemeinde und der Filesharing-Gemeinde, wenn es eine „Netzgemeinde“ gäbe? Wenn man gar nicht mehr weiß, wo „es“ im Internet steht, dann schreibt man eben „im Netz“. Worüber reden wir hier eigentlich?

Das ist jetzt keine Erbsenzählerei. Wenn ein Verkehrsexperte eine Auto nicht von einer Lokomotive unterscheiden könnte, sich aber anmaßte, über Binnenschifffahrt zu räsonnieren, würde man sicher an seiner Kompetenz zweifeln. Das Internet existiert seit 1969, das World Wide Web aber erst seit 1991 bzw. 1993. Wie sah denn, Herr „Multimedia-Journalist“ Disselhoff, das Internet zwischen 1969 und 1990 aus?

„Ob, wie von ‚Zyneasthesie‚ [diesen Nutzer gibt es nicht, stern.de! BS] behauptet, die Täterin verheiratet und heterosexuell war und ob sie katholischen Glaubens ist, stand zum Zeitpunkt des ersten Tweets noch gar nicht fest. Trotzdem verbreiteten sich die 138 Zeichen rasant. Damit wird einmal mehr deutlich, wie Kommunikation über Dienste wie Twitter, Facebook und Co. funktioniert: schnell.“ Das ist erstens nicht wahr und zweitens Deutsch des Grauens. Damit wird einmal mehr deutlich, wie Kommunikation über Holzmedien wie stern.de und Co. funktioniert: dumm und langsam.

„Das Problem ist wie so oft nicht die Nachricht, sondern wie mit ihr umgegangen wird. Während ausgebildete Journalisten darin geschult sind, sensibel mit Daten von Personen umzugehen und Fakten zu recherchieren, steht hingegen bei Twitter die Meinung schnell fest. Der Pressekodex gilt nun einmal nur für die Presse.“

Auch hier eine schlichte Falschmeldung. Auf der Website des Presserats heißt es: „Im Internet ist der Presserat ab dem 1.1.2009 für journalistisch-redaktionelle Beiträge zuständig, sofern es sich nicht um Rundfunk handelt.“ Außerdem, Kollege Disselhoff, ist der Presserat keine Behörde, vor der der Deutsche an sich gleich auf die Knie geht, sondern seine bloße Lobby-Organisation und ein Verein. „Mitglieder sind nur die vier Verbände, die auch den Trägerverein bilden: der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ), der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) und die Fachgruppe Journalismus in Ver.di.“ Also nichts, was man besonders ernst nehmen müsste.

„Die Presse“ sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Medienerzeugnisse von Bürgern, die dem Zweck der demokratischen Willensbildung und der Aufklärung dienen. Darunter fallen heute insbesondere Blogger und immer noch Leute, die einfache Flugblätter verfassen.

Außerdem darf ich als Journalist darauf hinweisen, dass das selbstbeweihräuchernde Geschwätz, „ausgebildete“ Journalisten würden Fakten recherchieren, bloße Agitprop ist und der Realität nicht mehr entspricht. (Ich will ja nicht schon wieder mit dem einflussreichsten Hoax des Jahrzehnts kommen.)

Das Internet ist laut Disselhoff „ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird“. Da hat der Kollege aber Meinung und Fakten „sauber“ getrennt! Das kommt davon, wenn man nie über den Suppenteller der Holzmedien, welche von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird, hinausgeblickt hat.

„Aus einer einzelnen Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt (…) oft unter sich begräbt.“ Mit diesem Satz kann man leben. So war es bei der so genannten „Online-Durchsuchung“, so ist es bei dem vom stern.de mitfinanzierten, aber um so erfolgloseren „Kampf gegen Rechts“ (man soll sich auch mit der „guten Sache“ nicht gemein machen, stern.de!) und auch bei dem moralinschwangerem und Hysterie-kompatiblen Schlagwort „Kinderpornografie im Internet“. Die „Fakten recherchierenden“ Journalisten haben sich wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert (nein, die gar nicht existenten Massenvernichtungswaffen im Irak und den Hufeisenplan lassen wir auch weg).

Mal ganz am Rande: Was will uns der Künstler auf stern.de eigentlich sagen? Dass „das Internet“ schlechteren Journalismus bietet als die Holzmedien?

Wie Schopenhauer schon in Die Welt als Wille und Vorstellung schrieb: „In diesem Geiste also arbeitend und während dessen immerfort das Falsche und Schlechte in allgemeiner Geltung, ja, Windbeutelei und Scharlatanerei in höchster Verehrung sehend, habe ich längst auf den Beifall meiner Zeitgenossen verzichtet.“ Das ist auch das Motto dieses kleinen Blogs.

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Kommentare

4 Kommentare zu “So zynisch und dumm ist stern.de”

  1. Digitalresident.de - Online, Offline und überhaupt... am September 22nd, 2010 5:28 pm

    […] dümmste Text seit 100 Jahren“ bezeichnet – stellvertretend verweise ich auf den Eintrag in „Burk´s Blog“. Für stern.de hagelte es nichts als Hohn und Spott. In Disselhoffs Augen werden das Medium und […]

  2. Michael am September 22nd, 2010 10:04 pm

    Daß Herr Disselhoff es mit den Worten und Begriffen (Web/Inet…) nicht so genau nimmt, das würde ich noch als kleinere Nachlässigkeit durchgehen lassen – da gibt’s nun wirklich Schlimmeres. Viel schlimmer finde ich, daß er offenbar nicht in der Lage ist, Satire zu erkennen.

  3. admin am September 22nd, 2010 11:11 pm

    Wer schreibt mich denn hier mit sächsischem Genitiv?! grrrr

  4. Farlion Inside am September 22nd, 2010 11:45 pm

    Qualitätsjournalisten sind feige…

    Gleich vorweg: Wenn ich von „Qualitätsjournalisten“ schreibe, dann meine ich damit die selbsternannten, selbstherrlichen und selbstbezogenen Helden der Schreiberzunft, denen wir Amateure aus später noch geschilderten Gründen ein Dorn im Auge sind. Es…

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