This way out | Die taz und Second Life

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Heute, liebe wohlwollende Leserin und lieber geneigter Leser, widmen wir uns dem Journalismus an sich, wie er nicht sein sollte und wie man ihn bei der taz studieren kann. Leider müssen wir, obwohl es für das Stammpublikum zum Erbrechen ist, wieder die berüchtigte 3D-Welt Second Life als pädagogisch wertvolles – in diesem Fall abschreckendes Beispiel nehmen. (Außerdem kann man das Thema so schön bebildern.) Anlass: Der Artikel vom 22.09.: „Pleitewelle in ‚Second Life'“. Der Autor ist Dietmar Kammerer, Kulturwissenschaftler und Filmkritiker, der auch ein kluges Buch geschrieben hat, dessen Klappentext sich interessant anhört.

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Vermutlich, und damit beginnt meine Nörgelei, besitzt er keinen Avatar und hat auch nicht in Second Life recherchiert. Der Screenshot, der seinen taz-Artikel bebildert, stammt von dpa, was uns lehrt, das niemand in der taz in der Lage war, selbst ein aussagekräftiges Bild beizusteuern. Was wiederum eine gewisse Aussagekraft hat. Und siehe da: Die taz gibt sogar zu, dass es sich beim dem Text um kein Produkt journalistischer Recherche handelt, sondern um bloßes Abschreiben aus der Wrtschaftswoche: „Philip Rosedale – Dem Second-Life-Gründer laufen die Kunden davon“, heißt es da. So kommen ohnehin die meisten Artikel zustande. Ich könnte jetzt versuchen, den taz-Text umzuschreiben und den der FAZ oder einer anderen Zeitung anzudrehen. Aber dazu bin ich zu blöd – ich bin kein Kulturwissenschaftler, sondern nur gelernter Altgermanist und blogge ein bisschen.

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„In ‚Second Life‘, dem Tummelplatz für Leute, die ihr erstes Leben lieber vor dem Rechner verbringen, hat die Pleitewelle nun Dimensionen angenommen“, schreibt Kammerer. Schön, dass man dämliche Vorurteile nicht nur am Stammtisch hört, sondern sie in einer vormals „alternativen“ Zeitung nachlesen kann. Die taz ist offenbar ein Tummelplatz für technikfeindliche Journalistik-Azubis, die ihre Texte lieber aus der Wirtschaftswoche übernehmen als die Fakten selbst zu überprüfen. Es geht munter so weiter: „Mark Kingdon, Vorsitzender des Second Life-Erfinders Linden Lab, sieht die Schuld für den massenhaften Exodus im Medienhype, der um die Web-Welt entstanden war. Für einen echten Belastungstest sei Second Life noch unausgereift. ‚Ich empfehle Geschäftsleuten, eher abzuwarten‘, vertraute er dem Focus an.“ Dem Focus. Das ist fast aktuell – der betreffende Artikel (die taz weiß nicht, was Links ins Internet sind) stammt vom 09. Juli. Auch Burks‘ Blog berichtete. Der aktuelle Anlass kann das Interview eigentlich nicht sein. Google hat die Recherche offenbar komplett ersetzt.

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„Von den weltweit 15 Millionen registrierten Nutzern besuchen nur ein Bruchteil regelmäßig die bunte Inselwelt. Die meisten User melden sich kostenlos an, sehen sich in der optisch eher reizarmen Umgebung um, kommen mit der komplizierten Steuerung nicht zurecht und verabschieden sich auf Nimmereinloggen.“ Ach ja. Haben wir das Fakten, gar eine empirische Basis? Mitnichten. Der Autor faselt einfach irgendwelchen Blödsinn, den er sich nach dem Motto „Die Welt als Wille und Vorstellung“ kulturpessimistisch zusammenerfunden hat. Ein Besuch der Website von Second Life reichte aus, um sich sachkundig zu machen, zum Beispiel in der Rubrik economic statistics: 500.000 aktive Nutzer pro Woche, insgesamt 15 Millionen Avatare (nicht Nutzer – man kann auch mehrere Avatare besitzen). Es ist auch falsch, dass nur 50 Avatare gleichzeitig an einem Ort sein können. Hätte der Autor Links zu seinen (nicht vorhandenen) Quellen gesetzt oder setzen müssen, wäre der Quatsch gleich ersichtlich. Das kommt davon, wenn man sich dem „Online-Journalismus“ störrisch und belehrungsresistent wie ein Lehrer verweigert.

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Ach ja, es gebe Konkurrenz. Die taz schafft es aber nicht, Twinity richtig zu schreiben und vergisst – nur was die Nutzerzahlen angeht – die einzigen ernst zu nehmenden Konkurrenten – Lively und HiPiHi. Was der Autor eigentlich mitteilen will und die Moral von der Geschicht‘ haben sich mir nicht erschlossen. Vielleicht musste man nur das Blatt vollkriegen. Ich empfehle: Schreibt doch beim nächsten Mal einfach aus Burks‘ Blog ab. Auch die hiesigen Screenshots dürfte die taz gratis verwenden – bei ordentlicher Quellenangabe. Dann wäre die taz beim Thema Second Life nicht mehr so optisch und faktisch reizarm.

Screenshots: „Orientation Island“ von Linden Lab in Second Life (1,2), die SIM Cymric (Burks‘ kleines Dampfboot vor der Küste, Mitte, und Burks‘ Strand beim Sonnenaufgang, unten), Hanja Welcome Area, Hangeul, in der Mitte Burks‘ Spinner (2. von unten).

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Kommentare

One Kommentar zu “This way out | Die taz und Second Life”

  1. Unter Bots - Die fiesen Tricks in Second Life : Burks’ Blog am Oktober 3rd, 2008 6:06 pm

    […] beurteilen wie die bedenkenträgerischen Deutschen, für die virtuelle Welten offenbar ein Feuilleton-Thema sind, für das man nicht zu recherchieren […]

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