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Erschienen am 18.02.2000
im Tagesspiegel, Berlin
.Kaukasus-Krieg erreicht das Netz

Der Krieg in Tschetschenien tobt auch im World Wide Web. Obwohl kaum ein Journalist zu den Rebellen vordringen und über die Situation vor Ort authentisch berichten darf, kann man sich informieren. Seitdem Andrej Babitskij, russischer Korrespondent von Radio Free Europe, am 15. Januar während des Sturms auf Grosny unter ungeklärten Umständen verschwand, ist eine der letzten unabhängigen Quellen über die Situation in Tschetschenien verstummt. Die Auskünfte der russischen Behörden über sein Schicksal und die Situation im Kriegsgebiet sind widersprüchlich und ungenau. Unterstützer in aller Welt, vor allem aus muslimischen Ländern, halten jedoch per E-Mail Kontakt zu den tschetschenischen Kämpfern. Wer von den Rebellen authentisches Material und Interviews bekommen will, kann das über das Internet tun. Eine der Web-Seiten tschetschenischer Widerstandskämpfer wird von einem deutschen Studenten aus Münster verwaltet.

Lars Wolfgang Müller, 26, ist Muslim und studiert Wirtschaftsinformatik. Ihm war aufgefallen, dass die russischen Militärs nach deren Angaben mehr Rebellen getötet haben wollten als die Tschetschenen insgesamt an Kämpfern auf die Beine stellten. Wie Müller dachten auch andere junge Muslime in Deutschland. Über E-Mail nahmen sie Kontakt zur Nachrichtenagentur Azzam Publikations in London auf, die ihre Informationen direkt von der Front bezieht. Azzam beliefert mehrere Web-Seiten der tschetschenischen Kämpfer: qoqaz.net in Sao Paulo, qoqaz.com in Caracas und jetzt auch qoqaz.de in Münster. Übersetzungen in mehrere Sprachen werden angeboten: Spanisch, Indonesisch, Bosnisch, Malayisch, Albanisch.

Die Qualität der Informationen sowohl auf russischer als auch auf tschetschenischer Seite entspricht der Absicht von Kriegsparteien: Propaganda für die eigene Sache zu machen. Qoqaz wendet sich an streng gläubige Muslime. Beschimpfungen des Gegners und zahlreiche Koran-Zitate sollen Emotionen wecken. Sachliche Argumentationen finden sich nur sporadisch. Nicht nur die russischen Invasoren, auch die "westlichen Medien" gehören zum Feindbild der Rebellen. Es gebe eine "Minderheit von aufrichtigen Reportern", aber der Koran habe schon vor 1400 Jahren zum Thema "Medien" das Notwenige gesagt: "Schon aus ihren Mündern ist Hass deutlich, und was ihre Herzen geheimhalten, ist schlimmer." Diese Interpretation der Realität hindert die tschetschenischen Propagandisten nicht daran, insbesondere die neuen Medien ganz professionell zu nutzen. Interviews seien zur Zeit sehr schwierig, die Journalisten sollte ihre Wünsche und Fragen per E-Mail senden. Antworten bekämen bedauerlicherweise nur "grosse Medienunternehmen" wie BBC, ABC, CNN usw.. Die anonymen Übersetzer in Europa distanzieren sich jedoch von der Quelle Azzam Publikations, die den Originalton der tscheteschenischen Propaganda widerspiegelt. Für Lars Wolfgang Müller geht es primär darum, das Informationsdefizit zum Krieg im Kaukasus zu beheben.

Unter dem Motto "Jihad in Chechnya" finden Interessierte Videos, Interviews, Spendenkontos und andere organisatorische Hinweise: „Ich möchte nach Chechnya und dort kämpfen. Wie komme ich dorthin?" Die beruhigende Antwort: Zur Zeit hätten die Mujahideen "keinen Bedarf an menschlichen Arbeitskräften". Die Wege nach Tschetschenien seien blockert. Man erwarte, dass sich die Situation im Frühjahr nach dem Verschwinden des Schnees ändern werde. Ansonsten helfe die „Anflehung zu Allah". Ein grosser Teil der Internet-Seiten beschäftigt sich mit den Widersprüchen zwischen der Berichterstattung und der Realität, wie sie die Rebellen sehen. Wie seien die Tschetschenen aus Grosny geflüchtet, fragt man unter Bezug auf einen Bericht der „Washington Post", wenn sie doch,"wie die westlichen Medien behaupteten", seit Monaten eingeschlossen waren? Nur für Muslime dürften jedoch die ausführlichen theologischen Diskussionen interessant sein, ob und warum ein „Heiliger Krieg" in Einklang mit den religiösen Geboten stehe.

Die Qoqaz-Seiten sind trotz der teils holperigen Übersetzung erstaunlich aktuell. Der Gesundheitszustand des schwer verletzten Kommandanten Shamil Basajev wird ausführlich diskutiert, die Rebellen versprechen sogar, Fotos ins Web zu stellen, um zu dokumentieren, dass die Meldung, Basajev seien beide Beine amputiert, falsch seien. Wer mit dem Kommandanten Ibn-ul Khattab kommunizieren möchte, schreibt eine E-Mail an Selam@qoqaz.de. Es gibt sogar ein "Mujahideen Chat". Letzteres funktioniert aber nur nach Anmeldung und Passworteingabe. Wahrscheinlich haben die verbliebenen Rebellen in den tschetschenischen Bergen auch Wichtigeres zu tun als per Laptop im Internet zu chatten.

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